Marie Endres, Martina Gödel, Thomas Hafki, Erwin Jurschitza (Hg.): Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky (Digitale Bibliothek, Bd. 125) Berlin: Directmedia Publishing 2005 [DVD-ROM], [Preis: 90,- EUR]

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Nach der vielgerühmten CD-ROM Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, die 1997 als erster Band der Digitalen Bibliothek bei directmedia erschienen und auch in diesem Jahrbuch anerkennend besprochen worden ist [1], hat derselbe Verlag nun auf einer DVD-ROM eine beinahe zehnmal so umfangreiche Sammlung deutschsprachiger Literaturwerke herausgebracht – die nach Berechnungen des Hauses einer Bibliothek von etwa 130 Regalmetern entspricht und Reich-Ranickis vielbändigem Kanon in mehr als einer Hinsicht Konkurrenz machen kann.

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Über die Auswahl der aufgenommenen Autoren wird sich immer streiten lassen, das wissen die Bearbeiter selbst. Mir zum Beispiel fehlen Campe, Falk, Hermes, Kortum, Lavater, Laßwitz, Leuthold, Lichtwer, Liscow, Meyern, Schücking, August und Rahel Varnhagen; hingegen hätte ich eine ganze Reihe wohl zu Recht vergessener Autoren in dieser Sammlung leichten Herzens entbehrt. Die allein für Hans von Chlumberg und Henriette Frölich reservierten rund 600 Seiten wären besser für das nach Nietzsches Wort beste deutsche Buch, das es gibt, zu nutzen gewesen: Eckermanns Gespräche mit Goethe. Mit Recht hat man jedoch einige poetologische Schriften aufgenommen: Puschmans Meistergesang-Bericht, Opitzens Poeterey-Buch, Schottels Verslehre, Blanckenburgs Romantheorie. Reichlich vertreten sind deutschsprachige Libretti: zu Opern von Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Humperdinck. Es fehlen nicht einmal Hedwig Lachmanns Übersetzung von Wilde’s Salomé und Ferdinand Rosners Oberammergauer Passionsspiel. Aufgrund der Integration früherer Bände der Digitalen Bibliothek enthält die DVD auch Märchen und Sagen sowie in großem Umfang Werke von poetae minores weiblichen Geschlechts. Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sind sowohl in der ersten als auch in der bekannteren Ausgabe letzter Hand zu finden. Einigermaßen stiefmütterlich behandelt finde ich unter den Lyrikern Ramler (von dem sogar die Nänie auf den Tod einer Wachtel fehlt) und den nur nach Maßgabe von Ellingers schmaler Auswahl (allerdings auch mit den Kindertodtenliedern) vertretenen Rückert. Hallers Gedichte hätte man nicht ohne die bereits vom Autor mitgeteilten Lesarten abdrucken sollen. Eigens hervorzuheben ist gegenüber solchen Versäumnissen die große Anzahl der Abbildungen: von Brants Narrenschiff und Luthers Bibelübersetzung über Lohensteins Arminius-Roman und Schnabels Insel Felsenburg bis hin zur Gesamtausgabe der Werke Stefan Georges und zum Kinder-Verwirr-Buch von Joachim Ringelnatz. Etwa die Hälfte der dreieinhalbtausend Reproduktionen entfällt allerdings auf Wilhelm Buschs Bildergeschichten.

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Beigefügt ist ein Register der Gedichtanfänge, in dem man etwa alle Gedichte beisammen finden kann, deren erster Vers mit »Ach« beginnt, wohingegen ein Register der Gedichttitel, das die Lyrik-CD der Digitalen Bibliothek bietet und in dem alle Gedichte mit dem Titel »Ach« zu finden wären, aus ungenannten Gründen fehlt. Darüber hinaus aber enthält das Register auch die Anfänge vieler lyrischer Einlagen wie des Lieds in Goethes Novelle (sogar strophenweise) und die Eingangszeilen bloß zitierter Vers-Texte wie in Eichendorffs Literaturgeschichte oder in Raabes Schüdderump sowie versehentlich die Anfangsworte einiger Sagen (»Als Christian der Vierte einmal in Odensee war«). In Dramen eingelegte Gedichte sind allerdings nicht berücksichtigt worden.

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Was die benutzten Quellen betrifft, deren Verzeichnis sich unter dem Titel »Sigel und Seitenkonkordanz« auf 200 Seiten der Einleitung versteckt, so sind dankenswerterweise für eine beträchtliche Anzahl von Texten die Originalausgaben (oder Reprints von solchen) verwendet worden – etwa für die Blockes-Berges Verrichtung des Johannes Praetorius, das Gedichtbuch der Catharina von Greiffenberg und Pückler-Muskaus Briefe eines Verstorbenen sowie für Lohensteins gewaltigen Arminius-Roman, der kaum weniger als 9.000 Bildschirmseiten in Anspruch nimmt. Für die Mehrzahl der älteren Autoren hat man im Allgemeinen gute moderne Ausgaben zu Grunde gelegt – unter besonderer Berücksichtigung der Verlage Aufbau (auch der populären Bibliothek deutscher Klassiker), Hanser (Jean Paul, Lessing, Schiller), Insel (Forster, Gellert), Niemeyer (Neudrucke deutscher Literaturwerke), Reclam (Ewald von Kleist, Rebhun, Vischer) und Winkler (Claudius, Eichendorff) sowie der Bibliothek des literarischen Vereins (Logau, Lohenstein, Hans Sachs). Fehlgriffe sind selten: Weckherlins Gedichte werden statt nach Hermann Fischers Gesamtausgabe nach Karl Goedeckes (recte: Goedekes) orthographisch bearbeiteter Auswahl abgedruckt, aus Grimmelshausens reichem Werk erscheinen hier nur drei Romane (Simplicissimus, Courasche, Springinsfeld) nach Hans Heinrich Borcherdts veralteter Ausgabe (ohne die Titelkupfer, im Fall der Courasche aber mit der »Erklärung des Kupfers«), und die ungebührlich strenge Auswahl aus Lichtenbergs Schriften (knapp 900 Seiten, ohne das Fragment von Schwänzen) übernimmt von der Hanser-Ausgabe deren törichte Neu-Numerierung der Sudelbuch-Notizen. Nicht völlig durchsichtig sind die Prinzipien, nach denen für einige Autoren, die in guten Gesamtausgaben vorliegen, außer diesen auch Teil- oder weitere Gesamtausgaben benutzt worden sind (Heine, Herder, Kleist, Platen, Tieck, Wieland). Für Ernst Stadlers Dichtungen hätte man nicht unkritisch Karl Ludwig Schneiders Ausgabe verwenden sollen, die Stadlers Langverse willkürlich auf zwei oder drei Zeilen verteilt (»In einem alten Buche | stieß ich auf ein Wort«, »Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. | Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. | Zum Untergang.«). Nach Stichproben zu urteilen sind die Texte insgesamt korrekt wiedergegeben, unter Einschluss auch von Druckfehlern der Vorlagen (bei Fischart »Sreit« statt »Streit«, bei Lohenstein »unmöglich« statt »möglich«, bei Drollinger »Acch«, bei Thümmel reimwidrig »jucken« statt »jücken«). Und Lichtenbergs gelegentliches »med.« ist natürlich statt in »med[itantum]« in »med[itandum]« aufzulösen.

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Die Software der Digitalen Bibliothek ist bereits bei Erscheinen der ersten CD ordentlich gelobt und inzwischen merklich verbessert worden. Was zunächst das Hauptstück beim Gebrauch solcher Datenbanken betrifft, das Instrumentarium, mit dessen Hilfe man die Texte nach beliebigen Zeichenketten durchsuchen kann, so bietet die neue Version (Digbib4) dem Benutzer den nicht unbedeutenden Vorteil, dass er die Recherche auf beliebige Teile der Textmasse sich erstrecken lassen kann – etwa um auf einen Blick festzustellen, dass Goethe das Wort »Liebe« in der Pandora dreimal so oft wie im umfangreicheren Helena-Akt des Faust gebraucht. Auch die Export-Funktion ist verbessert worden. An der Literatur-CD von 1997 hat man mit Recht bemängelt, dass längere Texte nur umständlich und zeitraubend, nämlich bildschirmseitenweise, in die Zwischenablage kopiert werden konnten. Nach Abstellung dieses Mangels kann nun wie bereits in später erschienenen CDs wenigstens die Anzahl der jeweils zu kopierenden Seiten angegeben werden – was nur den vergleichsweise geringen Nachteil mit sich bringt, dass zum Beispiel bei Romanen, weil der Schnitt da gewöhnlich mitten in einen Absatz fällt, das genaue Zuschneiden erst im Verlauf der Textverarbeitung erfolgen kann. Die Benutzeroberfläche ist gefälliger geraten, die Funktionstasten sind bequem zu bedienen. An die in der neuen Version erheblich veränderte Suchroutine gewöhnt man sich schnell – sobald man erst einmal begriffen hat, dass über die rechte Maustaste zunächst verlangt werden muss, dass eine Auswahl ermöglicht, und sodann nach Markierung des in Betracht gezogenen Textes, dass die Suche entsprechend beschränkt werden soll.

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Insgesamt liegt mit Band 125 der Digitalen Bibliothek eine erheblich erweiterte und verbesserte Neuauflage des Eröffnungsbandes 1 der verdienstlichen Reihe vor.