BEAT SUTER/MICHAEL BÖHLER (HG.): HYPERFICTION. HYPERLITERARISCHES LESEBUCH: INTERNET UND LITERATUR, MIT CD-ROM: BASEL, FRANKFURT A.M.: STROEMFELD 1999 (NEXUS 50).

BEAT SUTER: HYPERFIKTION UND INTERAKTIVE NARRATION IM FRÜHEN ENTWICKLUNGSSTADIUM ZU EINEM LITERARISCHEN GENRE: ZÜRICH: UPDATE VERLAG 2000.

Seit es die emphatischen Stimmen gibt, die im – nicht nur literarischen – Hypertext die Befreiung von althergebrachten Rollenzuweisungen im Umgang mit Literatur und das Aufbrechen eingefahrener Lesemechanismen feiern, wurden Gegenstimmen laut, die darauf hinweisen, dass die dazugehörigen Medienprodukte ja kaum existieren: Hyperfictions[1] werden von wenigen literarisch und technisch Interessierten produziert, die Anzahl der Beiträge über Wesen und Wert dieser Texte übersteigt deren Anzahl noch immer beträchtlich.[2] Die wenigen Klassiker, die es unter den Hyperfictions gibt – wie Michael Joyces Afternoon, a Story (1987), Stuart Moulthrops Victory Garden (1991) –, seien zwar ästhetisch gelungen und formal innovativ; über diese Ausnahmen hinaus finde man aber kaum Produkte, die mit zeitgenössischen literarischen Printtexten konkurrieren könnten. Das Argument fehlender Qualität gilt verschärft für die deutschsprachige Produktion von Hyperfiction, die in den englischsprachigen Abhandlungen zum Thema kaum zur Kenntnis genommen wird. Betrachtet man die ersten Texte, die anlässlich des ZEIT-Wettbewerbs 1996 entstanden sind, so ist man in der Tat enttäuscht: Es dominieren Spielereien, deutliche Freude daran, dass man Links setzen und Textteile damit semantisch kohärent oder auch überraschend verbinden kann, und das Erscheinungsbild der Texte ist oft noch stark an ihren linearen Vorgängern orientiert. Den Vergleich mit den genannten englischsprachigen Klassikern können sie ebenso wenig bestehen wie den Vergleich mit nicht-digitaler Gegenwartsliteratur. Seitdem sind zwar nur wenige Jahre vergangen, die Situation hat sich aber geändert. Seit das Programmieren einfacher geworden ist – Java-Applets, Javaskript –, nehmen die Texte an Zahl und Komplexität zu, und zwar an Komplexität in formaler, medialer und inhaltlicher Hinsicht.

Zweifellos muss der Literaturwissenschaft ein zeitlicher Reaktionsspielraum eingeräumt werden, so dass die Tatsache, dass sich langsam auch ›akademische‹ Veröffentlichungen dem Thema Hyperfiction widmen,[3] auf den ganz gewöhnlichen Gang wissenschaftlicher Gegenstandserschließung verweisen könnte. Jedoch scheinen mir die Bedenken tiefer zu gehen. Bekanntlich tut sich die deutschsprachige Literaturwissenschaft generell schwer mit literarischen Texten außerhalb der etablierten ›Hochliteratur‹, trotz ihres erweiterten Literaturbegriffs. Die Vorbehalte trafen bislang die Unterhaltungs- und Trivialliteratur, jetzt treffen sie die schwer einzuordnenden Hyperfictions. Der Vorwurf, die literarischen Hypertexte seien zu wenig anspruchsvoll und setzten allzu Bekanntes nur in einem neuen Medium um, verziert mit technischen Spielereien, ist als Einwand gegen die Beschäftigung mit diesen Texten nur stichhaltig, wenn man die Maßstäbe der Innovation, Originalität und formalen wie inhaltlichen Komplexität, die im akademischen Kontext für ›Literatur als Kunst‹ noch weitgehend gelten, eins zu eins auf die literarischen Hypertexte überträgt. Dass man diesen damit ebenso wenig gerecht werden kann wie der Unterhaltungsliteratur, liegt auf der Hand, jedoch dürften die Gründe andere sein: Sie liegen weniger im fehlenden Kunstanspruch (dieser wird von vielen Hyperfiction-Autoren signalisiert), als vielmehr in der unterschiedlichen textuellen Beschaffenheit.

Bietet also der zu untersuchende Gegenstand auch keinen Anlass zu kulturrevolutionärem Pathos, so rechtfertigt er es ebenso wenig, beruhigt zu den etablierten Texten zurückzukehren. Denn es kann literaturwissenschaftlicher Forschung nicht darum gehen, ihren Gegenstandsbereich mit dem Argument fehlender literarischer Qualität zu begrenzen, ohne auch nur die Angemessenheit dieses Maßstabs zu reflektieren. Gefragt sind vielmehr Bestandsaufnahme und Kriterienreflexion: Zum einen müssen die Hyperfictions, die in den letzten Jahren entstanden sind, gesichtet werden, und hier sind Produktionen aus dem deutschsprachigen Raum stärker zur Kenntnis zu nehmen, als dies bislang geschehen ist. Zum anderen müssen Kriterien weiterentwickelt werden, die zu ihrer Beschreibung, Analyse und Wertung sinnvollerweise eingesetzt werden können. Die beiden zu rezensierenden Bände tragen auf unterschiedliche Weise zu diesen Aufgaben bei. Während das Phänomen, um das es geht, im Sammelband multiperspektivisch eingekreist und durch entsprechende Produkte vorgestellt wird, liefert die Monographie Definitions- und Klassifikationsvorschläge sowie Ansätze zur Analyse solcher Produkte. Die Bücher ergänzen einander also: Der Sammelband dokumentiert einen Ist-Zustand sowohl in Bezug auf das Textkorpus ›Hyperfiction‹ aus dem deutschsprachigen Raum als auch in Hinsicht auf das theoretische und essayistische Sprechen über diese Literatur- beziehungsweise Kunstform; die Monographie bietet Möglichkeiten für ihre literaturwissenschaftliche Erfassung.

1. Das Lese- und Spielmedium

Suter und Böhler legen mit ihrer ›Hybrid-Publikation‹ von Sammelband und CD-ROM einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Diskussion über die literarischen Auswirkungen der neuen Medien vor, und sie bieten zugleich eine gut zugängliche Sammlung literarischer Hypertexte, die als Anthologie auf diese Form digitaler Literatur aufmerksam macht und sie einem größeren Publikum vorstellt. Sie füllen damit eine Lücke, die im deutschen Sprachraum seit mehreren Jahren klafft. Die Anthologie kann auch diejenigen erreichen, denen die Präsentation im Internet Rezeptionsprobleme bereitet – von der Schwierigkeit, die Texte zu finden, bis zur Abneigung gegen in Deutschland immer noch teure Online-Lektüren. Der Band soll ein Lesebuch sein; durch die CD-ROM[4] wird er zu einem Lese- und Spielmedium. Auf ihr sind 24 Hyperfictions zusammengestellt, darunter auch Texte von Preisträgern der e-literarischen Wettbewerbe der letzten Jahre. Viele der Beispiele dokumentieren die einleitende Behauptung, dass die deutschsprachige Hyperfiction komplexer geworden sei.

Das Print-Element dieses Doppelpacks, der Sammelband, ist in zwei Abschnitte eingeteilt. Der erste, 170 Seiten starke, enthält zwölf theoretisch-essayistische Texte zum Thema ›Hyperfiction‹, der zweite, keine zwanzig Seiten füllende, bietet den Einstieg in die CD-ROM. Er versammelt Texte der Autoren zu ihren Produkten, die diese vorstellen, ihre Entstehung skizzieren, oder allgemeine Überlegungen zur Kunst und Literatur heute anstellen. Alle Buchtexte finden sich auch auf der CD, einige ausgestattet mit Links ins Internet.

1.1 Ein neues literarisches Genre?

In ihrer Einführung stellen die Herausgeber eine wichtige Frage, die über disziplinäre Umgangsweisen mit den Texten entscheidet: Ist Hyperfiction ein neues Genre? Und wenn ja, welchem Bereich kultureller Produkte ist es zuzuordnen – dem literarischen, dem weiter gefassten ästhetischen, dem Unterhaltungsbereich?[5] Hyperfiction, so die Herausgeber, sind Teil der Internetliteratur, und diese lässt sich »als Lebenspraxis und Kulturmilieu sui generis« auffassen (S. 9). Als zu dieser Praxis gehörend und mit einer neuen Erscheinungsform auftretend wäre Hyperfiction dann ein neues Genre, aber ein Genre wovon? Zwar bleibt die Frage der Zugehörigkeit nicht unbeantwortet, jedoch fehlen für die ab S. 11 vertretene Auffassung, dass Hyperfiction als neues literarisches Genre zu verstehen sei, meines Erachtens die expliziten Argumente. Suters und Böhlers Bestimmung des Begriffs ›Hyperfiction‹ zeigt, dass sie die wichtigsten Merkmale in der Beschaffenheit als Hypertext sehen. Auf diese Komponente des Begriffs legen sie in ihrer Definition jedenfalls das Hauptgewicht, die zweite Komponente ›fiction‹ wird kaum erwähnt. Dass in Hyperfictions »Geschichten von Menschen und Lebensumständen« erzählt werden (S. 15) und dass es »literarische« Texte sind (S. 16), steht fest. Als implizite Kriterien kommen damit ihre Fiktionalität und darüber hinaus ein institutionelles Merkmal ins Spiel: der Kunstanspruch, mit dem sie veröffentlicht werden und der durch entsprechende Paratexte auf CD-ROMs oder den Erscheinungsort im Internet angezeigt wird. Damit wäre aber zumindest die einleitende Zuordnung zu einer neuen »Lebenspraxis« und einem neuen »Kulturmilieu« zu ergänzen: Hyperfictions sollen ›auch‹ zur Literatur zählen, was ihre Wahrnehmung, Deutung und Wertung beeinflussen muss. Die im Anschluss an Gerhard Schulze formulierte These von den verschiedenen Kulturmilieus, »die weitgehend losgelöst voneinander ihre je eigenen kontingenten Ästhetiken und Geschmackskulturen pflegen und entwickeln« (S. 9), kann also nicht dazu dienen, ein völlig neues Set an Kriterien für ihre Lektüre – und ihre wissenschaftliche Beschreibung zu suchen. Wenn Hyperfictions denn neuartige literarische Texte sind, muss es zumindest einige Gemeinsamkeiten mit den ›alten‹ geben. Fragen wie die, welches diese Gemeinsamkeiten sind und wie sich ihre multimediale Beschaffenheit dazu verhält, wären zu beantworten. Die meisten Beiträge in dem Band nehmen sie auf; ihre Antworten fallen anregend heterogen aus.

1.2 Essayistisches zum Thema ›Hyperfiction‹

Die Essays nehmen recht unterschiedliche Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand ein. Erfreulich selten findet sich die bekannte Aufbruchsrhetorik, mit der das ganz Neue des ›neuen Genres‹ legitimiert werden soll, indem man es als langersehnte Einlösung poststrukturalistischer Theoreme auffasst – eine These, die durch ihre häufige Wiederholung nicht plausibler wird.[6]

Uwe Wirth erweitert das Theoriearsenal, das üblicherweise in diesem Zusammenhang aufgefahren wird, durch den Hinweis auf die Peircesche Abduktion. Mit diesem Schlussverfahren lassen sich faktisch ablaufende Relevanzentscheidungen beim Lesen modellieren, und dieser Mechanismus ist damit auch auf das Lesen von Hypertexten übertragbar. Welcher Erklärungswert sich aber daraus ergibt, dass die Link-Struktur von Hyperfiction mit diesem lese- oder verstehenstypischen Mechanismus verbunden wird, bleibt der Rezensentin unklar.[7]

Die meisten Autoren sind um Präzision bemüht: Begriffsklärungen, Entwürfe von Typologien und Versuche, den Gegenstandsbereich durch genaue Beschreibung und Analyse zu erfassen, herrschen vor. Letzteres zum Beispiel prägt Doris Köhlers Beitrag, der in der Schilderung von Problemen, Joyces Afternoon zu übersetzen, die Funktionsweise eines Hypertexts exemplarisch erhellt; und ebenso aufschlussreich ist Bernd Wingerts Selbstversuch mit Moulthrops Forking Paths (1987). Wingert zeigt unter anderem anhand einer genauen Analyse der »Linksemantik« dieses Hypertexts (S. 162) nicht nur dessen Mechanismen auf, sondern liefert auch Einsichten in neue Lesestrategien, die die Texte erfordern, inklusive eines Vorschlags, wie man diese ›erheben‹ könne.

Dirk Schröder problematisiert in seinem Beitrag das Vorgehen, mit Hilfe des Begriffs ›Literatur‹ die Fiktionen im Internet zu klassifizieren. Sein Kriterium für die Zuschreibung des Attributs ›literarisch‹ scheint die Textzentriertheit zu sein (S. 47), die aber in Hypertexten zunehmend von Multimedialität abgelöst wird. Mit der Bezeichnung »Webfiction« möchte er (unter Verzicht auf das Attribut ›literarisch‹) einen Typus narrativer Werke im Internet präziser erfassen, nämlich für das Netz geschaffene, dort publizierte und ›weiterwachsende‹ Produkte, in denen die audiovisuellen Elemente eigenständigen Charakter haben. Auch Rolf Todesco hebt den Unterschied zwischen Hypertext und Literatur hervor, wenn auch mit abweichender Begründung. Im Rahmen seiner Erläuterungen zu kollaborativer Hyperkommunikation stellt er die herkömmlich-»bürgerliche« Auffassung von Literatur mit ihrem anvisierten Leser-Anschluss (S. 121) in einen deutlichen Gegensatz zu Mechanismen und Zielen von Hypertext. Christiane Heibach konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Netzkunst und fasst Netzliteratur als Bestandteil dieser umfassenderen Einheit auf (S. 102f.). Kennzeichen für Netzkunst und damit auch -literatur ist für sie die Bewegung der Oszillation, verstanden als Zusammenführung und Interferenz verschiedener Elemente mit dem Resultat neuer, in ständiger »Transformation« befindlicher Größen (S. 103). Die Analyse solcher Oszillations-Prozesse auf den Ebenen des Technischen, Ästhetischen und Sozialen versteht Heibach als Ansatzpunkt für eine Netz-Ästhetik.

Wird in den genannten Aufsätzen tendenziell dafür plädiert, das Attribut ›literarisch‹ zur Charakterisierung der Hyperfiction fallen zu lassen und diese entweder in einer umfassenderen Einheit der ›Netz-Kunst‹ aufgehen zu lassen oder auch mit stärker deskriptivem Anspruch schlicht als Narration aufzufassen, so heben andere Beiträger ›das Literarische‹ dieser Texte hervor, begründen es aber unterschiedlich. Michael Charlier plädiert für eine Erweiterung des Erzählkonzepts auf Erzählungen in Bildern, wie sie die Computerspiele Myst und Riven darstellen. Als ›Literatur‹ könnten diese Spiele in dem Sinne gelten, dass sie – über die Wichtigkeit der Schrift zur spielerischen Rekonstruktion der fiktiven Welten hinaus – mit großer Anschaulichkeit erzählen, anders als textzentrierte hyperliterarische Experimente, die nur abstrakt formulierbare Einsichten visualisieren. Dagegen wählt Heiko Idensen ein anderes Kriterium als das der Fiktionalität beziehungsweise Narrativität: Wenn er das »Genre Hyperfiction« als »Fortsetzung literarischer Experimente mit den Mitteln hypertextueller Verknüpfungen« (S. 64) bestimmt, stellt er Kontinuität nur mit einer Untergruppe ›traditionell-literarischer‹ Texte her, der experimentell-avantgardistischen. Für Reinhold Grether ist »Netzliteratur« Literatur unter den medialen Bedingungen des Internet (S. 85f.). Diese Bedingungen und ihre globalen Auswirkungen sind es denn auch, die er in seinen elf Thesen zur »Netzliteratur« behandelt, weniger den Begriff selbst und die Medienprodukte, die er bezeichnet. Wenn auch ohne Ausgriff auf den Weltzustand fasst Peter Berlich den fraglichen Gegenstand ähnlich wie Grether. Er bestimmt »›Hypertextliteratur‹, ›E-Text‹ oder ›Netzliteratur‹« mit Bezug auf das Internet (S. 144), ja sieht dieses als Bedingung für das »eher zufällig[e]« Entstehen (S. 143) dieser neuen literarischen Richtung aus dem Geiste der MUDs an. Zentrales Merkmal dieser Literatur ist für ihn die Interaktivität. Für Johannes Auer ist es mit Reinhard Döhl das Merkmal der »dialogische[n] Kunst« (S. 174), das diese Literatur kennzeichnet, wobei er eine besondere Form der Dialogizität meint: Analog zum Sampling des Disc Jockeys, der kurze Abschnitte aus vorliegenden Musikstücken kombiniert, zitieren und verbinden Autoren von Hyperfiction vorgegebene Bilder, Muster und Stereotype aus bekannten Medien (Film, Literatur oder Musik) und nutzen deren Konnotationen als berechenbaren ›Input‹ des Lesers. Zu Recht betont Martina Kieninger in Zusammenhang mit der Vorstellung ihres »zweisprachigen MehrautorenProjekts« Tango ein bisher ungenannt gebliebenes Merkmal der Internet-Literatur: den Spielcharakter, das Witzige, Leichte und Unterhaltende, das diese Texte auszeichnet und das seine Leser, so Kieninger, fordern.

Wie schon in Suters und Böhlers Einleitung wird in den meisten Essays das Attribut ›literarisch‹ als nicht weiter erklärungsbedürftige Konstante aufgefasst, die Kontinuität gewährleistet, während die abweichenden Merkmale von Hyerfiction betont werden. Inwiefern die medien- und technikbedingten Besonderheiten der Texte aber auch die Zuschreibung von Literarizität beeinträchtigen können, wird im Einzelnen kaum untersucht; in der ersten Gruppe der Essays wird die Abweichung aber wohl als so weitreichend verstanden, dass der Verzicht auf das Attribut oder eine Bereichsverlagerung plausibler erscheinen. Angesichts der in den Essays dokumentierten Differenzierung der Frage, ob Hyperfiction ein literarisches Genre oder eine neue, eigenständige Kunstform sei, und der entsprechend vielfältigen, nicht immer kompatiblen Antworten liegt es nahe, in einem zweiten Ansatz zu fragen, ob ein Blick auf die Texte weitere Hinweise geben könne.

1.3 Wie sieht deutschsprachige Hyperfiction eigentlich aus?

So soll denn wenigstens ein kurzer Blick auf die Protagonisten dieses Lesebuches geworfen werden, die literarischen Hypertexte. Da ihre Beschaffenheit nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann, ist es notwendig, einige von ihnen kurz vorzustellen, wenn ich dabei auch stark selektiv vorgehen muss.[8] Unter der leitenden Frage nach der Genrezugehörigkeit der Hyperfiction gruppiere ich die Texte nach ihrer ›Ähnlichkeit‹ mit den etablierten literarischen Gattungen, ohne sie damit angemessen klassifizieren zu wollen.

Prosanah und damit deutlich narrative Texte sind Susanne Berkenhegers Hyperfictions Hilfe! Ein Hypertext aus vier Kehlen und Zeit für die Bombe. Beide Texte haben ›Stories‹, die man sich in mehreren Durchgängen durch den Text in unterschiedlicher Reihenfolge und mit einigen inhaltlichen Variationen ›erarbeiten‹ kann. Optisch präsentiert werden sie auf Textseiten, die durch unterschiedliche Schriftarten, -größen und -farben abwechslungsreich gestaltet, aber statisch sind und über Links verlassen werden können, im Wechsel mit kleinen Programmen, die Texte in vorgegebener Folge ablaufen lassen. Verschiedene Links werden eingesetzt: lockere, eher assoziative Verbindungen der Informations- beziehungsweise Texteinheiten, Links, die Informationseinheiten stringenter verbinden, und solche, die in Schleifen führen, aus denen man nur noch durch mehrfaches Betätigen des »Back«-Schalters wieder herauskommt.[9] Die Autorin spielt mit literarischen Klischees, in Zeit für die Bombe etwa mit denen des Agenten- und Liebesromans.

Die Aaleskorte der Ölig von Dirk Günther und Frank Klötgen besteht gleich aus mehreren Geschichten, die sich aus einer Kombination desselben Figuren- und Szeneninventars ergeben. Einer Diashow ähnlich, in der Bilder in Verbindung mit kurzen, narrativen Texten gezeigt werden, läuft die Geschichte ab, die der Leser vorab durch Anklicken von zwanzig möglichen Elementen zusammengestellt hat. Durch die Kombinationsmöglichkeiten ergibt sich eine sehr große Anzahl ›verschiedener Geschichten‹, die im Rahmen dieser Hyperfiction präsentiert werden könnten.

Narrative Elemente in einer Schwundstufe enthält Claudia Klingers Hyperfiction Orkus, und zwar in Form dreier ›Sterbe-Fälle‹. In erster Linie werden hier aber nicht-narrative Texte und Bilder verlinkt, deren gemeinsamer Nenner das Thema ›Tod‹ bildet. Ein reflexiver Text ohne ›erzählte Geschichte‹ ist Stille, in dem fragmentarisch-vielsagende Aussagen vor einer statischen Hintergrundgraphik aufsteigen. Über die Texte kann man per Klick in Klingers »Digital Diary« springen, in dem nun allerdings Elemente von Alltagserzählen eingesetzt werden.

Eher an ein Drama als an eine Erzählung erinnert der eine Teil von Peter Berlichs Hyperfiction Core (Cybernetical Oration Research Entity = kybernetische Erzählungsforschungseinheit), ein witzig verfremdeter Dialog aus Casablanca. Er ist visuell integriert in einen Programmier-Code, der zugleich die Schalter enthält, um den Dramentext weiterlesen zu können. Orientiert am Bühnenraum sind zwei Texte Martina Kieningers, Der Schrank. Die Schranke und Der Fall, die Falle. Der erste ist darüber hinaus auch dialogisch organisiert.

Auf der CD-ROM dominieren allerdings Texte, deren Folie experimentelle, aber auch konventionelle Lyrik bildet. Johannes Auers Hypertexte erinnern stark an konkrete Poesie. In Pietistentango etwa präsentiert er animierte Buchstabenkombinationen, die in sechs Feldern auf dem Bildschirm aktiviert werden können und mit graphischen Elementen verbunden sind. Ähnlich funktioniert Kill the Poem, wo Leser die Möglichkeit haben, mit der semantisch aufgeladenen ›Kugel‹ einer Pistole entsprechende Wörter eines Gedichts zu eliminieren. Noras Ohr dagegen stellt eine Collage aus Bild, Animation und einer kurzen filmischen Sequenz dar, verbunden mit einem Ton (»Oh«) und Texten über van Goghs Verlust seines Ohres und über den Genie-Kult bei Künstlern.

Lyriknah sind auch Texte Martin Auers. Seine Lyrikmaschine vernetzt ihrem Erscheinungsbild nach ›konventionelle‹ Gedichte, indem sie die einzelnen Texte, von denen einige im Tom-Waits-Stil vorgesungen werden, über thematische Links mit anderen verbindet. Im Hypertext Im Ring kombiniert Auer vertikal und horizontal angeordnete Bilder aus dem Boxsport mit wiederum lyrischen Texten, die über Pfeile in den vier Himmelsrichtungen am Bildschirmrand erreichbar sind. Bilder und Texte kommentieren einander, die Reihenfolge der Verschaltung ist der ›Wahl‹ des Lesers überlassen. Dagegen werden in Nine Rooms Beschreibungen von neun farblich unterschiedenen Räumen und dem, was in ihnen geschieht, präsentiert. Einmal eingestiegen, findet man nur noch über den Link auf das Buch über die neun Räume wieder hinaus. Oliver Gassners komplexer Hypertext kwadrant c/y besteht aus einer Einstiegsseite und sechzehn, zum Teil animierten Texteinheiten, von denen einige mehrfach miteinander verbunden sind. Auch für die meisten von ihnen bilden experimentelle Beispiele lyrischer Texte die gattungsbezogene Folie. Gassners tango rgb dagegen ist ein weitgehend wortloses Spiel mit den Farben Rot, Blau und Grün, während noise99 narrative und graphische Elemente mit reflexiven Passagen verbindet. Vier verschiedenfarbige Quadrate enthalten Textseiten verschiedenen Inhalts – oben links der Text eines Ich-Erzählers über Eindrücke auf einer Party, in einem Zug, in einer Altstadt, oben rechts Aussagen über Internet-Literatur, unten links Auszüge aus E-Mails, unter anderem über die beste Art, den gerade ablaufenden Text zu lesen, sowie unten rechts eine wechselnde Anzahl von Gruppen zu je drei Punkten –, die ständig nicht zu schnell wechseln, aber doch so rasch, dass man nicht alle zugleich lesen kann.

Der Blick auf die Beispiele für Hyperfiction zeigt, dass die Tendenz, die sich in den Essays abzeichnet, die Narrativität als ein zentrales Kriterium für Hyperfiction zu wählen, nicht ausreicht: Es erfasst Texte wie Zeit für die Bombe und kann auch auf Adventure Games oder andere narrativ organisierte PC-Spiele angewendet werden. Was aber ist mit den Texten, die als lyriknah einzustufen sind oder die textarm graphisch-bildliche Elemente kombinieren, ohne zu erzählen? Die Tatsache, dass sich solche Texte auch auf der CD finden, legt zum einen nahe, dass es auch die Nähe zu anderen traditionellen literarischen Genres ist, die bei der Zuordnung zur Hyperfiction eine Rolle spielt. Dann wäre ›Hyperfiction‹ in der Tat ein Synonym für ›literarischer Hypertext‹, und das Kriterium der Narrativität wäre zu ergänzen. Wenn aber, zum anderen, die Textbasis gegenüber den visuellen und akustischen Elementen und den Filmsequenzen an Bedeutung verloren hat, handelt es sich dann nicht vielmehr um eine neue Kunstform, die disziplinäre Zuordnungen übersteigt und sich aus verschiedenen Quellen bedient?

2. Suters Monographie

Der Bestand akademischer Untersuchungen über Hyperfiction ist noch immer recht überschaubar; mit seiner Dissertation hat Suter die erste deutschsprachige Monographie zum Thema vorgelegt, die gattungstypologisch ausgerichtet ist und sich auf das Korpus der vorliegenden deutschsprachigen Texte konzentriert. Dementsprechend sieht Suter sein erstes Ziel darin, das Korpus zu sichten, zu beschreiben und zu klassifizieren. Die Suche nach einem Beschreibungsinstrumentarium für diese Texte, nach trennscharfen Begriffen und Kategorien, mit denen sie erfasst werden können, bestimmt denn auch Suters Arbeit zu einem großen Teil – und dies zu Recht: Nicht nur, wie eben gesehen, in den essayistischen, sondern auch in den akademisch publizierten Untersuchungen zu literarischen Hypertexten werden unterschiedliche Begriffe zur Beschreibung desselben Phänomens eingesetzt,[10] und die Frage, was eigentlich die spezifischen Merkmale von Hyperfiction seien, ist nach wie vor nicht einhellig beantwortet.[11] Angesichts der Neuheit des zu beschreibenden Phänomens ist diese Situation keineswegs verwunderlich, fordert aber eben die Strategie heraus, die Suter wählt. Im angelsächsischen Raum liegen mehrere Versuche vor, terminologische und verfahrenstechnische Klarheit zu schaffen. Suter schließt sich an einige von ihnen an,[12] kombiniert andere und erweitert das Spektrum um eigene Begriffe. Aus der materialreichen Studie können hier nur einige Beispiele vorgestellt werden.

2.1 Noch einmal: Was ist Hyperfiction?

Suter bestimmt die »hybride[...] Ausdrucksform« (S. 9) Hyperfiction als »die literarische Ausformung eines elektronischen Textes mit Verbindungen, die den multiplen Zugang zu Informationen ermöglichen« (S. 28) und setzt damit drei Kriterien ein: Die elektronische Vermittlungsform – elektronische Daten, Speichermedium, Lesegerät und -software – macht die erste Minimalbedingung für Hyperfiction aus. Links ermöglichen den geforderten »multiplen Zugang zu Informationen« (S. 28) des Textes, so dass ihr Einsatz die zweite Minimalbedingung für Hyperfiction bildet. Lassen sich die Bedingungen (1) und (2) als ›Prinzip Hypertext‹ zusammenfassen, so müsste die Spezifizierung ›literarisch‹ das distinktive Moment zu nicht-literarischen Hypertexten bilden. Doch wie bereits in der Einleitung des Sammelbandes finden sich zu diesem Thema die wenigsten Äußerungen. ›Literarisch‹ wird entweder mit, ›fiktional‹ oder gar ›narrativ‹ gleichgesetzt oder an einen »künstlerischen Gestaltungswillen« (S. 14) gebunden, oder das Attribut wird institutionell vergeben, etwa mit Bezug auf Texte, die in einem der Wettbewerbe für Internet-Literatur reüssiert haben.

Über diese allgemeinen Bestimmungen hinaus sorgt Suter für genauere Beschreibungsmöglichkeiten von Hyperfiction, zum einen anhand des Kriteriums, wie die Pfade des einzelnen Textes angeordnet und strukturiert sind, zum anderen über eine Reihe hypertexttypischer Merkmale

2.1.1 Konstruktionsmuster von Hyperfiction – Bausteine einer Typologie

Mit der Unterscheidung verschiedener Möglichkeiten, die Elemente eines Hypertextes zu verbinden, hat Suter die Kriterien für eine Typologie literarischer (und nicht-literarischer) Hypertexte gewonnen (dazu S. 55-63). Sie unterscheiden sich im Komplexitätsgrad ihrer Verzweigungen, in ihrem Organisationstyp von additiv bis hierarchisch und in der ›Gangbarkeit‹ ihrer Pfade, die nur in eine oder in beide Richtungen lesbar sein können. Hypertexte mit axialer Struktur, wie wissenschaftliche Texte mit Anmerkungen, weisen nur einen ›Strang‹ auf, von dem punktuell auf andere Informationseinheiten gesprungen werden kann, der Weg zurück aber obligatorisch ist. Ebenso erlauben Texte mit einer Tentakel-Struktur nur eine Leserichtung, nämlich die vom gemeinsamen Ausgangspunkt weg in eine von mehreren gebündelten, linearen Geschichten. Vielfältiger sind dagegen die Möglichkeiten, eine Baumstruktur hyperfiktional zu realisieren; ihr gemeinsamer Nenner liegt in einer hierarchischen Anordnung verzweigter Erzählstränge, die einen gemeinsamen Ausgangspunkt teilen, dann nicht einfach ›linear ablaufen‹, sondern Entscheidungen über den im Folgenden einzuschlagenden Weg verlangen.[13] Mit der Entscheidung für einen Weg entfallen die übrigen potentiell vorhandenen. Anders dagegen in rhizomatisch organisierten Texten.[14] In diesen nicht hierarchischen Hypertexten gibt es weitaus mehr Verbindungen, auch solche zwischen den einzelnen Erzählsträngen beziehungsweise möglichen Pfaden durch den Text. Auch bei den rhizomatischen Hypertexten unterscheidet Suter verschiedene Typen, von denen die labyrinthisch organisierten noch Anfang und Ende haben,[15] die ›echt rhizomatischen‹ – leider fehlt hier ein Begriff, der die Unterscheidung zwischen Typus und Untertypus ermöglicht – jedoch keine Richtung mehr vorgeben. Von jedem Punkt des Textes aus sind verschiedene Pfade wählbar, sprich Verbindungen mit mehreren Textelementen möglich. Der Anstieg an Entscheidungsmöglichkeiten des Lesers geht einher mit dem Verlust narrativer Kohärenz; diese ist nur noch innerhalb eines Elementes gegeben, also innerhalb von in sich linear oder auch axial strukturierten Textabschnitten.

2.1.2 Frageraster zur Beschreibung von Hyperfiction

Auch wenn Suter die folgenden Merkmale als Auswahlkriterien bezeichnet, die die Aufnahme bestimmter literarischer Hypertexte in sein Korpus geleitet haben, sind es doch faktisch Eigenschaften von Hyperfiction, die ihrer genaueren Beschreibung dienen. Nur einige von ihnen lassen sich normativ einsetzen, um besondere Hypertexte aus dem Korpus aller auszuwählen.[16] Zusammengenommen ergeben sie ein Frageraster, mit dessen Hilfe sich die Texte differenzieren lassen.

(a) Wie komplex ist der jeweilige Text? Diese Frage bezieht sich auf die erarbeitete Typologie. Suter verwendet sie als Auswahlkriterium: Wie komplex muss ein literarischer Hypertext sein, um in die Liste der innovativen literarischen Hypertexte aufgenommen zu werden? Hyperfiction in diesem Sinne muss mindestens eine Baumstruktur aufweisen.

(b) In welchem quantitativen Verhältnis stehen Textelemente und Informationseinheiten zueinander? Im Anschluss an Aarseth unterscheidet Suter textuelle Einheiten, die vom Autor geschrieben und kombiniert werden (»Textons«), von den Informationseinheiten, die diese »Textons« bilden (»Scriptons«) (S. 64f.). Diese Informationseinheiten müssen nicht im jeweiligen Lesedurchgang aktualisiert, das heißt ›besucht‹ werden, sondern sind als Potential in einem literarischen Hypertext vorhanden. Will man Hyperfiction beschreiben, so ist also zwischen den geschriebenen Textteilen und ihren Kombinationen, dem Potential enthaltener Informationseinheiten und den im einzelnen Leseprozess realisierten Informationseinheiten zu unterscheiden. Die Unterscheidung scheint mir sinnvoll und praktikabel; sie ließe sich aber, wie unten skizziert wird, mit Hilfe literaturwissenschaftlich eingeführter Begriffe präzisieren. Das Verhältnis von Text- zu Skripteinheiten ergibt sich aus den im Text angelegten Möglichkeiten, Informationen zu kombinieren, also aus der Link-Struktur des Textes.

(c) Wie viel Mitarbeit des Lesers ist erforderlich? Ein Charakteristikum von Hyperfiction ist nach Suter die Notwendigkeit »performativen Lesens« (S. 65), das heißt der aktiven Mitarbeit des Lesers am Text. Differenzkriterium ist hier weniger die Zahl der Mausklicks, die zu absolvieren ist, um durch die Geschichte zu kommen, als vielmehr die Menge der Entscheidungen, vor die der Leser gestellt ist.

(d) Wie werden Raum- und Zeitstrukturen eingesetzt? Ein wichtiges Merkmal, in dem sich Hyperfiction von anderen narrativen Texten unterscheidet, sieht Suter darin, dass die zeitlichen Ebenen als zentrale Strukturprinzipien durch räumliche Ebenen ersetzt werden. Dies ist zunächst einmal in dem oberflächennahen Sinne plausibel, dass die im Internet publizierten Texte ihren eigenen ›Raum‹ im Netz abgrenzen und markieren müssen (was nur für Internet-Hyperfictions gilt) und für die entworfenen virtuellen Räume zur Zeit großer Programmier- und Kodierungsaufwand betrieben wird. Wie sich die oberflächenbezogene und die narrative Raumstruktur zueinander verhalten und auf welche Weise Zeitstrukturen im Hypertext eingesetzt werden, kann zur Beschreibung von Hyperfiction nutzbar gemacht werden.

Abgeleitete Merkmale scheinen mir dagegen »Navigierbarkeit« und »narrative Pfade« zu sein (S. 67f.), die sich aus der Dominanz des Raumes und aus der Forderung nach komplexen Verknüpfungen ergeben. Beide Merkmale bezieht Suter auf die Orientierung des Lesers im Raum der Hyperfiction, die in Adventure Games als Exploration der Umgebung augenfällig wird, in textzentrierten Hyperfictions dagegen auf Raumvorstellungen übertragen werden muss.

2.2 Das Korpus und seine Auswertung

Suters Arbeit übernimmt über die Begriffsarbeit hinaus eine Dokumentationsaufgabe: Wegen der ›Flüchtigkeit‹ des Mediums, genauer wegen der Tatsache, dass manche Texte aufgrund technischer Pannen aus dem Netz verschwinden, aufgrund veralteter Software schlicht nicht mehr lesbar sind oder ältere Versionen durch neuere überschrieben werden, ist das Korpus weniger stabil, als es Texte in Printform sind. Wenn Suter in seinem Band das Korpus der deutschsprachigen Hyperfiction aus ihrer »Pionierzeit« untersucht, dann arbeitet er zugleich archivierend,[17] indem er Merkmale von Texten fixiert, die vielleicht bald schon nicht mehr existieren. Dennoch ist das Archivieren von Netzliteratur nicht unumstritten, wirkt es doch einem charakteristischen Merkmal dieser Literatur entgegen, eben ihrer Flüchtigkeit. Die Frage, ob es sich bei diesem Merkmal um eine vorübergehend in Kauf zu nehmende Kinderkrankheit des Mediums handelt oder aber um eine wesentliche Eigenschaft der Kunstform, wird jedoch unterschiedlich beantwortet.

Suter präsentiert zunächst eine kommentierte, selektive[18] Liste von 39 deutschsprachigen »Hyperfiktionen«, die zwischen 1994 und 1998 erschienen sind. Für jeden Eintrag findet man unter anderem differenzierte Quellenangaben sowie eine Kurzbeschreibung des Inhalts und der Struktur des Textes neben Angaben zu seinen technischen Voraussetzungen. Bei der Auswertung seines so erfassten Korpus konzentriert sich Suter auf die Gemeinsamkeiten der sehr unterschiedlichen Texte, um neben einem Überblick über Themen und Formen auch »die signifikanten Merkmale von Hyperfiktionen« herauszuarbeiten (S. 103). Dies sind, knapp gesagt, historisch variable Eigenschaften: Die strukturelle Komplexität der Texte nimmt deutlich zu; bei weitgehender Fixierung auf HTML-Kodierung inklusive Erweiterungen durch Javaskript und Java-Applets steigt die Tendenz zur Multimedialität ebenfalls; die Texte werden in aller Regel im Internet und nicht auf CD-ROM veröffentlicht; und sie weisen eine thematische Vielfalt auf, jedoch mit deutlichem Bedürfnis, das eigene Medium zu thematisieren.

Zur Auswertung gehören auch fünf Einzeltextanalysen. Sie enthalten Paraphrasen der erzählten Geschichte(n), also Skizzen der verschiedenen Handlungsverläufe und Angaben über Raum und Zeit der Geschichte, gegebenenfalls kurze Beschreibungen der Bildschirmoberfläche, darüber hinaus Angaben über Menge und Beschaffenheit der Hypertext-Elemente, über Navigationsmöglichkeiten, Linkstruktur und -strategien. Obwohl die Einzelanalysen demonstrativen Charakter haben sollen, wirken sie beliebig in dem Sinne, dass wichtige Fragen wie die, welche textuellen Informationen in die Analyse einbezogen werden müssen, welche Schwerpunkte der Analysierende setzt und wie er sie begründen kann, wann mit der Rekonstruktion alternativer Textdurchgänge abgebrochen werden kann et cetera, ungestellt bleiben. Ansätze zu einer über die weitgehend deskriptive Perspektive hinausgehenden Interpretation der Texte müssten Suters Analysen nicht aufweisen, sporadisch finden sich jedoch solche, wenn auch keinesfalls systematisch durchgeführt.[19]


2.3 Offene Probleme

Suters Monographie hat, wie gesagt, im deutschsprachigen Raum Pionierfunktion für den wissenschaftlichen Umgang mit Hyperfiction. Seine Vorschläge zum Beschreibungsinventar und zur Klassifikation dieser Texte sind ebenso durchdacht wie beachtenswert. Sie werden in künftigen Forschungen aufzunehmen und zu erproben sein. Selbstverständlich kann man nicht erwarten, dass in der ersten gattungsbezogenen Monographie zum Thema alle Fragen beantwortet werden, und so bleiben denn vor allem Fragen von spezifisch literaturwissenschaftlichem Interesse offen. Einige, wie das Gattungsproblem, sind oben angesprochen worden, ein weiteres, das Anschlussproblem, sei abschließend ausgeführt.

In welchem Verhältnis stehen das gegenstandsspezifische Neuland und die etablierten literaturwissenschaftlichen Beschreibungsinstrumentarien zueinander? Suter markiert die Anschlussmöglichkeiten an einigen Stellen seiner Untersuchung. In erster Linie verwendet er narratologische Begriffe Genettes, um die Verbindungen zwischen Elementen von Hyperfiction zu erfassen. Er setzt sie auf zwei Ebenen ein: konventionell (und seltener) zur Beschreibung von Strukturen der fiktiven Welt, neuartig (und öfter) zur Beschreibung der link-gesteuerten Informationsvergabe. Hier wäre genauer nachzufragen. Wenn man die zweite Anwendungsvariante als Spielart auffassen könnte, die sich auf die Darstellungsebene eines Textes bezieht, dann wäre für Hyperfiction eine weitere narratologische Analyseebene anzunehmen: neben der (ebenfalls untersuchungsbedürftigen) Darstellungsdimension der Textelemente eine solche des Linkings zwischen ihnen. Dieser Befund unterstützt nicht nur die ohnehin naheliegende Annahme, dass bei literarischen Hypertexten eine weitere Analyseebene zu beachten sei, nämlich diejenige, die sich aus der zusätzlichen, besonderen Art der Verknüpfung von Textelementen ergibt; darüber hinaus dürften durch die Kombination beider Darstellungsebenen komplexere Möglichkeiten der narrativen Informationsvergabe entstehen, die erst noch auszuloten sind. Eingehender zu behandeln wäre auch die Frage, welche Textelemente und -relationen der Erzählinstanz und welche dem empirischen Autor zuzuschreiben sind. Suter schreibt Darstellungsstrategien, etwa solche der Zeitgestaltung in der Regel dem Autor zu (zum Beispiel S. 112); zu diskutieren wäre aber, ob die erzähltheoretische Differenz von Autor und Erzähler sich hier nicht fruchtbar einsetzen ließe.

Andere Anschlussmöglichkeiten an literaturwissenschaftliche Terminologie nutzt Suter nicht. So ließe sich die oben erläuterte Unterscheidung zwischen ›Textons‹, ›Scriptons‹ und ›besuchten Scriptons‹ mit der literaturwissenschaftlichen Praxis parallelisieren, zwischen dem Textmaterial mit seinen paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen einerseits und andererseits den mentalen Modellen der empirischen Leser, die während des Leseaktes ausgebildet werden, zu differenzieren. Dabei wäre der Bereich potentieller Informationen im Text den unterschiedlich benannten ›idealen‹ Instanzen zuzuordnen, also dem ›impliziten Leser‹ oder ›Modell-Leser‹. Diese Entsprechung trifft jedoch nicht ganz zu, da es zumindest beim ›besuchten Scripton‹ ja zunächst einmal schlicht um aktualisierte Pfade im Hypertext geht, also um das Herstellen der jeweils verwendeten materialen Textbasis, die dann erst verstanden werden muss. Dennoch ist die Parallele mit der literaturwissenschaftlichen Ebenendifferenzierung erhellend: Sie verdeutlicht zum einen, dass in der literaturwissenschaftlichen Analyse von Hyperfiction die beliebte Proseminar-Floskel, dass fünf Interpreten desselben literarischen Textes doch eigentlich fünf unterschiedliche Texte lesen, in einem konkreteren Sinne zum Problem wird als bei linearen Texten: Was ist die Basis einer literaturwissenschaftlichen Beschreibung von Hyperfiction? Sind es die Textons, die Scriptons oder die (in mehreren Duchgängen) besuchten Scriptons? Zum anderen zeigt die Parallele, dass die Ebene der mentalen Modelle, des ›verstandenen Texts‹, in vielen hypertexttheoretischen Ansätzen nach außen verlagert wird auf die materiale Ebene, auf der ein Text durch die Wahl verschiedener Pfade erst generiert wird. Damit ist aber für das Problem des Textverstehens noch nichts gewonnen. Vielmehr wäre dieses Problem neu zu formulieren als Verhältnis mentaler Modelle zu verschieden angeordnetem Textmaterial und dementsprechend unterschiedlichen textuellen Strategien der Informationsvergabe, die sich eventuell auch typologisieren ließen. So kann die Nutzung literaturwissenschaftlich etablierter Begriffe und Problemformulierungen auch dazu dienen, offene Fragen des Erfassens von Hyperfiction zu präzisieren.

3. Fazit

In der deutschsprachigen Debatte über die theoretische Erfassung von Hyperfiction nehmen die beiden Bände eine wichtige Position ein. Der Vorteil des Sammelbandes liegt darin, die Diskussion über das neue Medium und seine Texte entlastet von den Aufgeregtheiten der ersten Jahre und zugleich perspektivenreich weiterzuführen. Wertvoll in ihren historischen und systematischen Überlegungen zum Phänomen Hyperfiction ist die Einleitung der beiden Herausgeber, auch wenn man zu einem anderen Schluss kommen mag als sie: Mir scheinen die Argumente für die Annahme zu überwiegen, in Hyperfiction kein neues literarisches Genre zu sehen, sondern eine neue Kunstform, die disziplinäre Zuordnungen übersteigt, da sie sich aus verschiedenen Quellen bedient. Sie übernimmt von der Literatur die Texte, vom PC-Spiel das interaktive Moment, vom Film die bewegten Bilder und die Töne, und zwar mit variablen Gewichtungen. Suter geht also meines Erachtens in seiner Monographie von einer falschen Voraussetzung aus, was aber die Nützlichkeit seiner begrifflichen und klassifikatorischen Vorschläge nicht mindert: Sein Versuch, technischen Bedingungen des neuen Mediums und zugleich den vielfältigen spezifischen Merkmalen der Texte Rechnung zu tragen, um sie genauer erfassen zu können, führt die wissenschaftliche Beschäftigung mit Hyperfiction weiter. Wenn aber Hyperfiction kein literarisches Genre ist, welchen Beitrag können dann literaturwissenschaftliche Beschreibungs- und Interpretationsinstrumentarien leisten? Wohl einen ähnlich komplementären, wie sie für die Analyse eines nicht mehr so neuen Mediums, des Films, geleistet haben und noch leisten. Für das Erfassen von textuellen Strukturen, narrativen Mechanismen, Gattungsschemata, intertextuellen Bezügen et cetera eignen sie sich, besonders dann, wenn Textelemente überwiegen und die Hyperficions literarische Muster aufnehmen, wie auf der CD-ROM oftmals der Fall. Um audiovisuelle Muster analysieren zu können, wären sie durch entsprechende Instrumentarien anderer Fächer zu erweitern; für Spezifika des neuen Mediums sind erst noch geeignete Werkzeuge zu erproben. Den Theoretikern des neuen Mediums aber ist zu empfehlen, sich da, wo es geht, der begrifflich und verfahrenstechnisch sedimentierten Erfahrungen der ›älteren‹ Disziplinen zu bedienen, um das Rad nicht schon wieder erfinden zu müssen.

Simone Winko (Hamburg)

PD Dr. Simone Winko
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
20146 Hamburg
simone_winko@uni-hamburg.de


(7. September 2001)
[1] Ähnlich verwendet und in der Regel nicht trennscharf eingesetzt werden die Begriffe ›literarische Hypertexte‹, ›Netz-Literatur‹, ›Web-Fiction‹, ›E-Literatur‹, ›digitale Literatur‹ u.a.
[2] Ein Beleg von zahlreichen: Hilmar Schmundt: Strom, Spannung, Widerstand. Hyperfictions – die Romantik des elektronischen Zeitalters. In: Martin Klepper/Ruth Mayer/Ernst-Peter Schneck (Hg.): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin, New York: de Gruyter 1996, S. 44-67. Hier S. 51.
[3] Z.B. die kulturgeschichtliche Darstellung von Margaret Wertheim: Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet. Zürich: Ammann 2000; Sabrina Ortmann: netz literatur projekt. Entwicklung einer neuen Literaturform von 160 bis heute. Berlin: berlinerzimmer 2001; angekündigt sind der Text & Kritik-Band Digitale Literatur (2001) und Roberto Simanowski: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.
[4] Erforderlich sind die Betriebssysteme Windows 9x oder MacOS; die Texte werden richtig angezeigt von Netscape- oder Microsoft-Browsern ab Version 4.0, die der CD-ROM beigegeben sind.
[5] Über diese Frage war man sich schon früh uneins, z.B. anlässlich des zweiten ZEIT-Wettbewerbs für Internet-Literatur; dazu z.B. Auers Beitrag in Suter/Böhler, S. 173.
[6] Auf der Basis der Auseinandersetzung mit zahlreichen vorliegenden Hyperfictions werden solche weitreichenden und emphatischen Aussagen heute zu Recht relativiert und versachlicht; vgl. dazu etwa Roberto Simanowski: Einige Vorschläge und Fragen zur Betrachtung digitaler Literatur. In: IASL Diskussionsforum online: Netzkommunikation in ihren Folgen. <http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/siman.htm> (02.09.2001). Auch Verfasser digitaler Literatur sehen in Thesen wie der vom Leser, der die Rolle des Autors einnimmt, eine in erster Linie ideologische Aussage; so etwa Johannes Auer: 7 Thesen zur Netzliteratur. In: IASL Diskussionsforum online: <http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/netzkun.htm#Auer> (02.09.2001).
[7] Gerade für solche Fragen nach dem hypertexttypischen Lesen und entsprechenden Verstehensprozessen scheinen mir empirische Ansätze ertragreicher zu sein, die sich aber bislang vorwiegend auf Informationstexte beziehen; vgl. Ursula Christmann/Norbert Groeben/Jürgen Flender/Johannes Naumann/Tobias Richter: Verarbeitungsstrategien von traditionellen (linearen) Buchtexten und zukünftigen (nicht-linearen) Hypertexten. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur. 10. Sonderheft (1999), S. 175-189; auch schon Jean-François Rouet/Jarmo J. Levonen: Studying and Learning with Hypertext. Empirical Studies and Their Implications. In: dies. u.a. (Hg.): Hypertext and Cognition. Mahwah/N.J.: LEA 1996, S. 9-23.
[8] Ausführlichere Angaben zu mehreren Texten der CD-ROM finden sich in Suters Beschreibung seines Textkorpus, Kap. 3, und teilweise in der Auswertung, Kap. 4.
[9] Instruktiv sind Berkenhegers Ausführungen über verschiedene Lesertypen von Hyperfiction, die sie beim Schreiben bzw. Kodieren vor Augen hat und auf die sie mit verschiedenen Link-Strategien reagiert; Susanne Berkenheger: Der mausgesteuerte Autor. In: Suter/Böhler, S. 207f.
[10] Vgl. z.B. die Versuche, Hyperfiction mit Begriffen aus dem Bereich verschiedener Legespiele zu erfassen, die Schröder auflistet; Dirk Schröder: Der Link als Herme und Seitensprung. In: Suter/Böhler 1999, S. 47.
[11] Vgl. z.B. die Beiträge von Roberto Simanowski: Einige Vorschläge und Fragen zur Betrachtung digitaler Literatur (siehe Fußnote 5) und Christiane Heibach: Weitere Thesen und (teilweise) Gegenthesen zur Netzkunst und –literatur. <http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/heibach.htm> (02.09.2001).
[12] Vor allem an Espen J. Aarseth und Jay David Bolter.
[13] Paradigmatisch für diese Form sind kollektive Schreibprojekte, die nicht linear organisiert sind wie Beim Bäcker, <http://home.snafu.de/klinger/baecker/> (02.09.2001), sondern in denen sich nach jedem Element eine Reihe von Möglichkeiten anschließt, die Geschichte weiterzuverfolgen, wie in den Geschichten von The Neverending Tale, <http://tales.coder.com/creations/tale/> (02.09.2001).
[14] Auch wenn Suter diesen Modebegriff möglichst sachlich verwendet und an Texteigenschaften bindet, bleibt ein Rest des Deleuze-Guattarischen Raunens. So stehen mindestens zwei Strategien der Begriffsbestimmung bei Deleuze/Guattari (Gilles Deleuze/Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977) im Widerspruch zu Suters Anwendungsbereich. (1) Die Aktivierung des Textes: Ein rhizomatischer Hypertext in Suters Sinne »wuchert« nicht selbständig »in alle Richtungen« weiter (S. 60); vielmehr aktualisieren Leser die vorgegebene Möglichkeit, zwischen vielen Textelementen viele Verbindungen herzustellen und sich dabei per Sprungmarke in die jeweils ermöglichten Richtungen zu bewegen. (2) Dimensionen statt Elemente: Entgegen der Aussage, dass Rhizome »nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen« bestehen (Deleuze/Guattari, S. 34, Suter S. 56), setzen sie sich in Suters Bestimmungen und Graphiken (S. 61ff.) selbstverständlich aus – wenn auch dreidimensional angeordneten – Elementen zusammen, und ihre Besonderheit liegt in der Art der Verbindung zwischen ihnen.
[15] Charakteristisch für diesen Typus sind Adventure Games und ›immersive‹ Spiele wie Myst oder sein Nachfolger Riven.
[16] Das gilt m.E. im strengen Sinne nur für die strukturelle Komplexität und den Aspekt performativen Lesens.
[17] Wie auch schon in der ersten kommentierten Liste deutschsprachiger Hyperfiction, die Suter bis zum 18.12.1998 nach amerikanischem Vorbild geführt hat: Siehe die URL <http://www.update.ch/beluga/hf.htm> (02.09.2001).
[18] Die drei Kriterien, die Suter nennt – Erfüllen der Grundbedingungen für Hyperfiction, Medienspezifik des Textes und formale oder inhaltliche Innovation –, sind weniger überzeugend (S. 70f.). Während die ersten beiden naheliegen, aber annähernd deckungsgleich sind, bedarf das dritte einer Rechtfertigung: Statt formaler und inhaltlicher Innovation wäre wohl Repräsentativität angebrachter, wenn es darum geht, einen Überblick über deutschsprachige Hyperfiction zu geben.
[19] Vgl. dagegen Simanowskis ausführliche Besprechung des Textes Die Aaleskorte der Ölig mit gleich mehreren Interpretationsansätzen im Archiv von Dichtung digital, siehe: <http://www.dichtung-digital.de/Simanowski/18-Aug-99/index.htm> (02.09.2001).