ECKARD HAMMEL (HG.): SYNTHETISCHE WELTEN. KUNST, KÜNSTLICHKEIT UND KOMMUNIKATIONSMEDIEN. ESSEN: DIE BLAUE EULE 1996.

Synthetische Welten ist ein Titel, der vieles umfassen kann: mediale, künstlerische, künstliche Welten und – da alle Wahrnehmung auf Konstruktion beruht, »alle Welten«, wie Wolfgang Welsch zuspitzt, »im Grunde künstliche Welten [sind]« (S. 162) – selbst natürliche. Eine idealer Dachbegriff also für einen Vortragsband. Gerade deswegen aber auch ein recht hinterhältiger, der schnell den zweiten Teil seiner Bedeutung, die künstliche Einheit, ins Zentrum treten lässt. Dies geschieht zumindest, wenn man sich nicht bemüht, den so offenkundigen Zusammenhalt der Teile explizit zu machen. Von einer solchen Anstrengung kann allerdings keine Rede sein angesichts des kurzen Vorworts, das als Verbindungsglied nur eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel Kunst und Kommunikationsmedien nennt. Auf dieser haben die Autoren der neun Beiträge das Thema aus der Perspektive ihres jeweiligen Schwerpunktes dargestellt; zwei Gespräche mit Jean Baudrillard und Oswald Wiener, den »Pionieren der gegenwärtigen Diskussion über die Neuen Medien« (S. 7), wurden hinzugesetzt – fertig war ein weiterer Band zu einem Top-Thema der Gegenwart.

Wenn der Zusammenhang nicht überzeugt, kann man noch immer die Vielfalt des Versammelten genießen. Das fällt jedoch schwer, wenn der Einzelbeitrag sich als verkleinerte Kopie des Ganzen erweist, wie Norbert Bolz' Ästhetik als neue Leitwissenschaft. Kommunikationsdesign und neue Medien. Dieser Text, der der Ästhetik die Schlüsselstellung in der gegenwärtigen Wissenschaft zuschreibt, weil sie nicht nur eine Theorie der schönen Künste, sondern die Lehre von der Wahrnehmung ist, spricht zu vieles zu kurz an und hat es allzu oft weniger auf eine klare Gedankenführung abgesehen als auf griffige Formulierungen. Einige davon bleiben ohne Erklärung, inwiefern zum Beispiel die Kunst »heute nicht mehr das schlechte Gewissen der modernen Gesellschaft, sondern ihr Frühwarnsystem« (S. 13) ist, andere laden zu weiteren Überlegungen ein: die Häuserfassaden von Las Vegas und Tokyo als »Bildschirmarchitektur«, die »Feedbackarchitektur« der kybernetischen Stadt (S. 18). Eckhard Hammels und Gerhard Redas Guts & Cuts 4 Thrill Kill Cult. Über Splatter Movies, Serial Killers und das Problem filmischer Authentizität vergisst vor lauter Freude am Nacherzählen grusliger Filme den zweiten Teil seines Untertitels. Der Text ist ein spezifischer Filmführer, der nicht nur erklärtermaßen die doch spannende semantische Differenz zwischen ›echt‹ und ›gestellt‹ gar nicht erst diskutieren will, sondern auch die mitgelieferten Ausgangspunkte für eine Theoretisierung der Lust am Horror (wie die wollüstig applaudierenden und kreischenden Zuschauer einer äußerst grausamen Hinrichtung von 1757) ungenutzt lässt. Die abschließende Pointe, das Furchtbarste für die Horror-Fangemeinde sei die Zensur, das ›Zerstückeln‹ wehrloser Filme, kann dafür nicht lang genug entschädigen. Rudolf Heinz hat es mit Video-Kunst. Offener Brief an den Leser über Effekte realisierter Fantasmen auf Provokation angelegt. Sein Text ist ungewöhnlich, aber auch gesucht kompliziert, wie ein Beispiel schnell zeigt:

Selbst auch das visible Totum, syn-chron er-sehen, so recht auf göttliche Art und Weise, restiert außenvor und bildet, als unbegrenzte Oberfläche, grenzziehend ein nicht minder maß-loses Innen aus, so wie das Panorama-Kugelauge auf der Gegenseite im Nichts seiner umhüllten Interiorität rein nur außer-sich agiert. (S. 49).

Wer diese Art mag, wird sie dem Autor als Auflockerung danken, die anderen sollten indes keine Spielverderber sein und alles als Spott auf die Textsorte ›wissenschaftliche Abhandlung‹ sehen.

Ohne Ironie, aber mit umso mehr Klarheit (und einigen Bildbeispielen) berichtet dagegen Lutz Hieber über Künstlerinnen und Künstler in politischen Bewegungen der Gegenwart. Er lenkt den Blick auf so vernachlässigte Medien wie bedruckte T-Shirts, Buttons, Aufkleber, Fotokopien und Poster für den Privatgebrauch. An ihnen zeigt Hieber den politischen Protest US-amerikanischer Aufklärungskampagnen über AIDS sowie deren untergründigen Diskurs durch die Implantierung entsprechender Symbole in der Öffentlichkeit und (indem diese auf weit sichtbaren Transparenten in Wahlveranstaltungen geschickt platziert werden) selbst in den öffentlichen Bildmedien. Da statt der früheren Bibelsprüche heute die Kenntnis von Werbeslogans zum grundlegenden Wissensbestand der europäischen und nordamerikanischen Bevölkerung gehört, wird das Paradigma der Werbeästhetik aufgegriffen und in den Dienst des politischen Protestes gestellt. Jochen Hörischs Leser oder Schnittstelle Mensch. Öffentlichkeit im multimedialen Zeitalter beginnt mit einem Schlagertext der frühen 30er Jahre, der indirekt die kulturellen, medialen und mentalen Veränderungen im Zeitalter industrieller Massenkommunikation thematisiert. Hörisch stellt die Epoche der Buchkultur als kurze Episode in der Menschheitsgeschichte dar, als Ausnahmefall um 1800, dem bald wieder die analphabetischen Medien den Rang abliefen: Fotografie, Grammophon, Film, Tonband, Video. Die List der Geschichte besteht nun darin, dass das Ende des Buches nicht das der Schrift ist, denn diese hat in PC und Internet durchaus ihren Platz und zwar mit dem zweifelhaften Erfolg, dass immer mehr Leser zu Autoren werden.

Dietmar Kamper versucht in Je mehr Zufall, desto mehr Spiel. Ein Versuch über das Kontingente seinem Thema auch formal gerecht zu werden. Obgleich manche Absätze aus nur vier Sätzen bestehen – »Alle Symmetrie ist zuletzt die von Innen und Außen. Die aber stimmt nicht. Deshalb steigt der Lärm an, je näher man kommt. Die Augenmacht endet im weißen Rauschen, in der absoluten Information« (S. 114) –, fühlt der Leser sich vom Autor mitunter so alleingelassen, dass Verstehen eine Frage des Zufalls wird. Kohärenz dagegen bei Friedrich Kittler, der in Farben und/oder Maschinen denken wieder viel Mathematikgeschichte vorbringt, außerdem auf Heideggers »blutiges Drama« (S. 124) zwischen Geist und Natur eingeht, die leider nicht ausgeführte These aufstellt, dass oft Breakdowns, Fehler und Störungen am Anfang wissenschaftlich-technischer Entdeckungen stehen und mit der schönen Geschichte von der nutzlosesten Maschine der Welt endet, an der man einen Schalter auf ON oder OFF stellen kann, wobei in der ON-Stellung eine künstliche Hand aus dem Maschinendeckel kommt, die den Schalter wieder auf OFF legt.

Mike Sandbotes Beitrag Mediale Zeiten. Zur Veränderung unserer Zeiterfahrung durch die elektronischen Medien bietet einen systematisierenden Überblick über aktuelle medienphilosophische Grundpositionen zum Thema Zeiterfahrung und ihr Wandel. Dabei wird der informationstheoretische Materialismus Virilios, Kittlers und Baudrillards ebenso bündig erörtert wie der medienphilosophische Postmodernismus Derridas und Lyotards, de Keckehoves Zukunftseuphorie hinsichtlich eines radikalen Epochenwandels in den Strukturen menschlicher Wahrnehmung (von der visuellen Fixierung zu einem neuen ›sensorischen Vergnügen‹ durch künftige Cyberspace-Technologien) und Rortys kontingenztheoretischer Pragmatismus, ein radikal ›zeitliches‹ Denken, das sich selbst als Produkt von Zeit und Zufall begreift und jede Verehrung einer ›Quasi-Gottheit‹ (›unser Bewusstsein‹, ›unsere Gemeinschaft‹) unterlässt (S. 151). Ebenso instruktiv ist Wolfgang Welschs Künstliche Welten? Blicke auf elektronische Welten, Normalwelten und künstlerische Welten. Phänomenologisch thematisiert Welsch einige Charakteristika der medialen Welten und ihre Rückwirkung auf die Alltagswelt wie die »Virtualisierung der Wirklichkeit« als Langzeiteffekt der Rezeption von Wirklichkeit vor allem über die Medien. Diesbezüglich übernimmt Cyberspace geradezu eine aufklärerische Rolle, indem er den »grundsätzlich konstruktivistischen Charakter von Wirklichkeit« (S. 175) erst bewusst macht und den leichtfertigen Glauben an den ›Realismus‹ der (elektronischen) Medien demontiert. Nach Welsch führt diese Entwicklung im Zuge der Gegenwehr zu »Revalidierungen«: Lob der Langsamkeit, des Statischen, der Einmaligkeit. Schließlich wird die Reaktion der Kunst auf die elektronischen Medien in ihren zwei wesentlichen Varianten beschrieben: dem »Überläufertum und Beharren« beziehungweise, aus der Perspektive der Gegenseite, der »avancierten Kunst mittels elektronischer Medien oder Psodeukunst nach gestriger Art« (S. 181).

Das angefügte Gespräch zwischen Tom Lamberty, Kurt Leimer, Frank Wulf und Jean Baudrillard über Elemente der Verführung erörtert das Verschwinden des Menschengeschlechts durch die Technologie und den Zusammenhang von Medien und Verführung. Auf die Frage nach der Funktion des Serienmörders, der die Medien verführe, ihn zum Star ihrer Berichterstattung zu machen und von diesen gleichzeitig zu weiteren Morden verführt werde, antwortet Baudrillard etwas heikel und selbst im Gestus der Verführung (und zwar in beiden Genetiv-Varianten):

[D]er Serienkiller ist noch ein echter Held. Er bringt noch etwas vom früheren Typus des Mörders mit, der noch menschliche Züge trug, während das System in seiner Banalität einfach Vernichtung bringt. Durch einen anschaulichen Mörder versuchen wir quasi die Vernichtung noch einmal zu exorzisieren. Er ist ein Vertreter dieser Logik, ein Symbol der Sehnsucht nach dem Tode anstelle von Vernichtung. Eine Kompensation, bei der vielleicht auch ein Opferungsprozeß stattfindet. (S. 196)

Oswald Wiener gesteht im Gespräch mit Stan Lafleur Über Kunst, Selbstbeobachtung und Automatentheorie zwar lapidar über die Wiener Gruppe: »Wir haben schon daran gedacht, Leute umzubringen, als Kunstwerk oder so – wenn das radikal ist. Aber es ist nicht geschehen.« (S. 202) Mit dem Cyberspace-Vorgriff in Wieners Roman die verbesserung von mitteleuropa (1965), dessen Reflexion von Bewusstsein und Kommunikation und Beschreibung eines Bio-Adapters zur Ersetzung organismischer Funktionen durch maschinelle wird letzlich der Anschluss ans Thema des vorliegenden Bandes gefunden.

Roberto Simanowski (Göttingen) Roberto.Simanowski@dichtung-digital.de


(16. Juni 2001)