EINLADUNG ZUR LITERATURWISSENSCHAFT[1]. DAS ESSENER INTERNET-VERTIEFUNGSPROGRAMM ZUM SELBSTSTUDIUM. EIN ERFAHRUNGSBERICHT

Abstract

The following paper deals with the development of a hypertext-study program for personal use, connected with Jochen Vogts 1999 textbook Einladung zur Literaturwissenschaft (Invitation to Literary Studies), which is used for first year-classes of German literature in several universities home and abroad. Our hypertext-program is available in the World Wide Web and basically provides substantial information on authors (both literary and critical) and literary terms (in example genres, literary history, styles, theory) mentioned in the textbook. In addition, short original texts represent the most important critical schools. A system of links gives every user the opportunity to find her or his own path through the jungle of literary facts, concepts and terms. My paper tries to trace mainly the discussions and decisions in our working team, mostly of graduate students, to discuss the didactic possibilities of the hypertext, and to summarize the responses of users both in Essen and worldwide to our work-in-progress.

Neulich wurde ich bei einem Multimedia-Workshop an der Universität Essen gefragt, welches die einschneidendste Erfahrung mit unserem hochschuldidaktischen Internetprojekt gewesen sei. Nach kurzem Nachdenken nannte ich die Unabschließbarkeit des Projekts. Das war sicherlich nicht sehr originell, aber vermutlich einem großen Kreis von internetaktiven Geisteswissenschaftlern aus dem Herzen gesprochen. Ich dachte an die vielen Deadlines für den endgültigen Redaktionsschluss, die – kaum erreicht – um mindestens ein Semester verschoben wurden. An Team-Besprechungen,[2] in denen das Projekt immer wieder überarbeitet und erweitert wurde. Und natürlich auch an die zahlreichen Hindernisse, die der ganz gewöhnliche Hochschulalltag einem solchen Unternehmen in den Weg legt, das neben der Alltagsarbeit entwickelt und abgeschlossen werden soll.

Zunächst aber zur Vorgeschichte: Seit den Achtzigerjahren hatte sich die Situation des Massenfachs Germanistik durch steigende Studierendenzahlen und Stellenstreichungen zunehmend verschlechtert – in Essen wie vielerorts sonst. Eine Konsequenz war, dass unser früheres Grundkursmodell (vier Semesterwochenstunden in Gruppen unter 25) nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Die literaturwissenschaftlichen Fachvertreter, damals Professor Manfred Schneider und Professor Jochen Vogt, etablierten daraufhin eine zweistündige Grundkursvorlesung, die von Übungen in kleineren Gruppen begleitet war. Sie sollte den Studenten einen ersten breit gefächerten und zugleich exemplarischen Einblick in das Fach vermitteln. Von der Geschichte der Germanistik reichte das Spektrum über die verschiedenen literarischen Gattungen und die Methoden des Fachs bis hin zur Medienwissenschaft. Schnell wurde die Notwendigkeit spürbar, die Vorlesung daheim intensiver nachzuarbeiten und einzelne Aspekte zu vertiefen. Als erste Hilfsmittel entstanden zunächst zwei fotokopierte Reader, in denen jeweils einführende Texte zu den Themen, aber auch markante Beiträge enthalten waren, die in der Vorlesung erwähnt wurden. So gab es zur Begleitung der Poetik-Vorlesung unter anderem Ausschnitte aus Aristoteles' Poetik und Goethes Rede zum Shakespeare-Tag, für die Lyrik-Vorlesung waren Textstellen aus Hegels Ästhetik ausgewählt worden und über hermeneutische Verfahren konnte man sich mit Hilfe eines Ausschnitts aus Gadamers Wahrheit und Methode informieren. Trotz dieses Angebots wurde schnell deutlich, dass die Reader zwei wirkliche Defizite nicht ausgleichen konnten: Erstens ersetzten sie keine einheitlich konzipierte Einführung ins Studienfach, ließen den roten Fadennicht deutlich genug werden, und zweitens waren die Erstsemester von den schwierigen Theorietexten oft überfordert. Auch der Versuch, dieses Defizit durch die Empfehlung diverser greifbarer Einführungsbände in das Studium der Germanistik und/oder Literaturwissenschaft auszugleichen, befriedigte nicht.

Mein eigener Eindruck – um es ohne Umschweife zu sagen – ist, daß die meisten dieser Titel sich entweder als faktenorientierte Paukbücher oder als ehrgeizige Methodenrevuen darstellen. Beides geht aber am tatsächlichen Bedarf vorbei. Weder verfügen unsere Studienanfänger/innen – von individuellen Ausnahmen abgesehen – über die theoretischen Vorkenntnisse, die von den einen stillschweigend vorausgesetzt werden, noch ist der faktische Lernstoff so eindeutig definiert und ›selbstverständlich‹, wie die anderen unterstellen.[3]

Das schreibt Jochen Vogt im Nachwort zur Einladung zur Literaturwissenschaft, um sein Vorhaben, diesen Titeln noch ein weiteres Lehrbuch hinzuzufügen, zu rechtfertigen. Auch seine persönliche Motivation erklärt er damit rückblickend. Auf dem Hintergrund dreißigjähriger Lehrerfahrung entstand der Gedanke, eine etwas andere Einführung, eine Einladung zur Literaturwissenschaft, zu verfassen. Eine Einführung, die sich an die realexistierenden Anfänger und Anfängerinnen wendet, und die »die Inhalte, Ziele, Verfahren und Instrumente des literaturwissenschaftlichen Studiums erst plausibel macht – in gewisser Weise für sie wirbt«.[4] Eine Einführung, die grundlegende Fakten und Begriffe exemplarisch an Beispielen zu erläutern versucht, beziehungsweise sie historisch, strukturell oder wissenschaftssystematisch kontextualisiert, eine Einführung, die insofern also auf die Reflexion der fachlichen Gegenstände, Verfahren und Ziele setzt, aber keine einzelne Methode als so genannte Leitmethode in den Mittelpunkt stellt.

Die dezidiert exemplarische, immer auf jenen roten Faden achtende Anlage des Buchs ließ aber nun ein anderes Defizit deutlich werden. Das lineare Medium Buch konnte nicht allen Informationsinteressen gerecht werden. Die exemplarische Anlage beschränkte es und musste zwangsläufig bestimmte Detailinformationen aussparen. An dieser Stelle setzte vor rund sechs Jahren das erste Nachdenken über den Einsatz computergestützter Lernmaterialien ein. Die Verwendung von neuen Medien im Hochschulstudium lag in der Luft und lud zu Experimenten ein; der Professor steuerte sein Lieblingszitat von Herbert Achternbusch bei, »Neues entsteht nur, wenn wir etwas machen, von dem wir nix verstehen«, ließ uns aber sonst weitgehend in Ruhe. Das führte letztlich zu dem Entschluss, eine Kombination von klassischem Druckerzeugnis und digitalem Speichermedium herzustellen, – zunächst einmal ein wenig ins Blaue hinein, nur gebrauchsfähig (was natürlich auch mit der nie geleugneten, sozialisationsbedingten Vorliebe des Professors für Druck und Papier zusammenhing). Dem Buch – dies war die erste Idee – sollte eine CD-ROM beigelegt werden, auf der eine gekürzte Hypertext-Version des Textes erscheinen sollte, die mit Hilfe von Links und Popups weiterführende Informationen böte. Geplant waren im Grunde drei Ebenen, die sich hinter den Buchseiten öffnen könnten. Ausgangspunkt wäre das Inhaltsverzeichnis des Buchs gewesen, das den Weg zum Hypertext geebnet hätte, der wiederum Links von den im Text genannten Autorennamen, ihren Werken und bestimmten Begriffen zu Autoren-, Werk- und Sachartikeln angeboten hätte. Diese wären dann wiederum durch Hyperlinks miteinander verknüpft worden, so dass der Nutzer sich einen eigenen Weg durch das Labyrinth der Literaturwissenschaft hätte bahnen können, um immer wieder neue Zusammenhänge herzustellen. Ich schreibe nicht umsonst im Irrealis, denn weder ist diese CD-ROM produziert noch ein Hypertext-Programm in dieser Form erarbeitet worden.

Zunächst scheiterte der Plan, dem Buch eine CD-ROM beizulegen, ganz praktisch: Der Zeit- und Arbeitsaufwand für ein solches Projekt war von allen Beteiligten vollkommen unterschätzt worden. Und: Das Buch war lange vor einem möglichen Abschluss des Hypertextes fertig. Die Entscheidung für das Internet als Speichermedium wurde uns also geradezu aufgezwungen, bot aber schon auf den ersten Blick viele Vorteile: Wir konnten zeitgleich mit dem Erscheinen des Buchs 1999 mit einer Baustelle ans Netz gehen, so dass die einschlägigen Hinweise zum Vertiefungsprogramm nicht ins Leere liefen. Außerdem waren wir weiterhin offen für Anregungen und Kritik, um die wir die User baten – das Programm blieb dadurch entwicklungsfähig. Zudem boten wir auch Studenten anderer Universitäten (und sogar, horribile dictu, Nichtlesern der Einladung) die Möglichkeit, das Internet-Angebot kostenlos zu nutzen; ein positiver Nebeneffekt war natürlich auch der günstigere Buchpreis. Also keine CD-ROM; warum aber nicht der zuerst geplante Hypertext mit Buchkurzfassung? Er passte nicht mehr so recht zu der im Laufe der Zeit sich entwickelnden didaktischen Konzeption. Ausgangspunkt war ja die Erfahrung, dass viele Studierende sich schnell weiterinformieren oder Gehörtes noch einmal wiederholen wollten. Dem wurde der erste Entwurf zwar teilweise gerecht, aber die Lücken einer exemplarischen Darstellung waren so nicht zu füllen. In einer Überblicksdarstellung der rhetorischen Traditionslinien bleibt die Vorstellung einzelner rhetorischer Mittel auf der Strecke, in einem Kapitel über die Epik können weder die vielfältigen Positionen der Erzähltheorie noch sämtliche epischen Formen vom Versepos bis zum postmodernen Roman Erwähnung finden, und eine Annäherung an die Methoden des Fachs kann in einem linearen Text ohnehin keine Vollständigkeit anstreben. Ein Vertiefungsprogramm, dessen zweite Ebene nicht aus einem Fließtext, sondern aus einer stichwortartigen Struktur des Themas besteht, bietet diese Möglichkeiten schon eher. Alles, was zur Komplexitätsreduktion und damit zur Erhöhung der Verständlichkeit (teilweise mit Bauchgrimmen, teilweise mit listiger Freude) in der Vorlesung und im Buch weggelassen wurde, findet hier seinen Platz. Gerade die jungen ›Stürmer und Dränger‹ aus der Projektgruppe, zu denen auch die Autorin dieses Erfahrungsberichts gehört, wollten – um ein Beispiel zu nennen – weder auf Artikel zu poststrukturalistischen Methoden noch über Systemtheorie als Methode der Literaturwissenschaft verzichten, die der Professor in seinen Kapiteln für kaum erwähnenswert hielt (Wir haben ihn zwar immer noch nicht überzeugt, aber immerhin ließ er uns gewähren...). Damit wird, Spaß beiseite, auch eine einfache Wiederholung der Struktur des Buches vermieden. Das Programm kann die Aspekte der gedruckten Einladung (der Vorlesung) direkt ergänzen und vertiefen, geht aber auch darüber hinaus und wird zu einem eigenständigen System.

Um diese Struktur sichtbar zu machen, soll hier sowohl die erste wie auch – exemplarisch – eine zweite Ebene des Programms gezeigt werden.

Inhalt

1. Aus Irrtum studiert? Größe und Krise der Germanistik
2. Die Literaturwissenschaft auf der Suche nach ihrem Gegenstand
3. Regeln und Probleme des Textverstehens: Hermeneutik
4. Theorien der Textproduktion: Rhetorik und Poetik
5. Gattungen und Textstrukturen I: Epik
6. Gattungen und Textstrukturen II: Lyrik
7. Gattungen und Textstrukturen III: Dramatik
8. Zwischenbilanz: Was heißt nun »Literatur«?
9. Gibt es Methoden der Literaturwissenschaft?
10. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte
11. Von Lust und Frust der Lektüre
12. Ausblick: Literatur im Medienwandel[5]
13. Index

Diese erste Ebene lehnt sich direkt an das Inhaltsverzeichnis des Buches an, ist aber um eine Indexfunktion erweitert worden. Die ständig steigende Artikelmenge drängte uns die Einsicht auf, dass unser Vertiefungsprogramm mittlerweile durchaus Lexikoncharakter hat. Zwar ist es natürlich nur ein eingeschränktes literaturwissenschaftliches Nachschlagewerk, aber bei rund 300 Einträgen erschien es uns sinnvoll, diese auch abseits der inhaltlichen Strukturierung zugänglich zu machen. Schon von der Startseite (linke Navigationsleiste) und vom Vorwort (über einen Link) aus kann der Index aufgesucht werden. Wer den klassischen Weg einschlagen will, kann über den Inhalt den Index anwählen, wie auch die folgende oder eine ähnliche Seite – hier in einer stark gekürzten Fassung:

4. Theorien der Textproduktion: Rhetorik und Poetik

1. Rhetorik

1.1 Grundbegriffe der Rhetorik
Redegattungen
Redefunktionen
Elemente der Rede
Rhetorische Mittel:

Tropen Wortfiguren Sinnfiguren
Metapher
Katachrese
Metonymie
Synekdoche
Emphase
Hyperbel
Periphrase
Synonym

Anapher
Epipher
Paronomasie
Polyptoton
Polysyndeton
Asyndeton
Ellipse
Zeugma
Hyperbaton
Parallelismus
Chiasmus

Antithese
Apostrophe
Rhetorische Fragen Permission
Personifikation
Allegorie

1.2 Positionen der antiken Rhetorik
Gorgias
Platon:
Gorgias
Aristoteles:
Rhetorik
Marcus Tullius Cicero:

Über den Redner
Marcus Fabius Quintilian:
Ausbildung des Redners

2. Poetik
2.1 Antike
Platon:
Der Staat
Aristoteles:
Poetik


[...]

Diese Feingliederung zum Kapitel Rhetorik und Poetik macht deutlich, in welche Richtungen das Vertiefungsprogramm geht. Es stellt einen Raum für sachliche, historische, theoretische und personenbezogene Informationen her, der die Grenzen eines geschlossenen Textes sprengt. Ein Text mit einer solchen Informationsdichte wäre überkomplex, er würde seinen Zusammenhang verlieren. Der Hypertext löst dieses Problem.

Kritiker könnten fragen, ob ein Lexikon, ein Handbuch oder umfangreiche Fußnoten nicht dieselbe Funktion erfüllen. Wir glauben nicht. Erstens wendet sich die virtuelle Einladung zur Literaturwissenschaft ja an einen viel größeren Interessentenkreis. Fußnoten wären also kein probates Mittel, denn sie erreichen nur den Leser und nicht die Hörer der Vorlesung oder andere interessierte Studierende. Außerdem sind Fußnoten wieder in die lineare Struktur des Textes eingebunden. Sie können keine Verbindungen abseits der Textlogik herstellen. Dagegen ist es dem Hypertext möglich, dem neugierigen Nutzer, der zum Beispiel auf Grund seines Interesses an Poetik den einschlägigen Text von Aristoteles im Poetik-Rhetorik-Kapitel aufruft, zu erlauben eine solche Verbindung herzustellen, indem er durch einen Link zum Poetikartikel desselben Autors im Dramenkapitel geführt wird, wo dann die kanonischen Überlegungen Aristoteles' zu Tragödie und Komödie präsentiert werden. Hier wird also ein direkter Zusammenhang hergestellt, der so im Buch nicht gegeben ist. Und dies ist nur eine von unzähligen Möglichkeiten des Besuchers, sich einen eigenen, individuellen Weg durch das Labyrinth der Literaturwissenschaft zu bahnen. Diese Wortwahl weist aber auch schon auf eine Gefährdung hin, die mit dem Hypertext fraglos gegeben ist: Man kann sich verirren. Ob man sich tatsächlich verirrt, hängt von der Absicht, in gewisser Weise von der Disziplin des einzelnen Users ab. Die Navigation unseres Systems ist so konzipiert, dass der User mit dem »Back«-Button seines Browsers immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren kann. Außerdem kann man durch einen Pfeil am Textende zur nächsthöheren Ebene des aktuellen Standortes springen oder aber mit Hilfe der linken Navigationsleiste jederzeit zum Inhalt, zum Vorwort, zur Hilfe, zum Index und zum Impressum gehen. Gerade die breit angelegte Hierarchie bietet einen Orientierungsvorteil gegenüber Programmen, deren Hierarchie in die Tiefe geht.[6]

Welche Vorteile bietet das Hypertextprogramm nun gegenüber einem konventionellen Sachwörterbuch? Erstens einen strukturellen: Sowohl das Inhaltsverzeichnis auf der ersten Ebene, wie auch die historischen, sachlichen und personengebundenen Seiten auf der zweiten Ebene gehen weit über ein hierarchieloses Nebeneinanderstehen von Stichwörtern, Namen oder Werken in einem Lexikon hinaus. Theoretiker und Fachbegriffe werden in den Kontext themengebundener Diskussionszusammenhänge gestellt. Zudem werden hier durch die Navigationsmöglichkeiten Zusammenhänge hergestellt, die das Verweissystem eines Lexikons deutlich übertreffen. Und zweitens einen inhaltlichen: Unsere Artikel unterscheiden sich von typischen Lexikonartikeln. Sie heißen Informationsartikel, um schon durch diese Bezeichnung einen spezifischen, prinzipiell an den Erwartungen und am Gebrauchszusammenhang unserer privilegierten User, der Studienanfänger, orientierten Anspruch zu markieren. Unsere Informationsartikel sollen möglichst nicht mehr als zwei Textseiten umfassen. Grundsätzlich versuchen wir, konkret zu schreiben, auf unnötige Fremdwörter zu verzichten, die Sätze kurz zu halten und damit für größtmögliche Klarheit zu sorgen. Die Informationsartikel liegen in unterschiedlicher Ausprägung als Autoren-, Werk- und Sachartikel vor.

Die Autorenartikel verzichten bewusst, abgesehen von den Geburts- und Sterbedaten, auf biographische Elemente. Auch wird der Autor nicht mit seinem Gesamtwerk berücksichtigt. Bei Autoren, die keine genuinen Literaturwissenschaftler sind, zum Beispiel Philosophen, ist es das Ziel, nur diejenigen Ideen vorzustellen, die einen direkten Einfluss auf die Literatur oder ihre Theorie ausgeübt haben. Damit entgeht man einer unnötigen Datenflut, die den Anfänger nur irritiert. Auch wird bewusst auf Name-Dropping nach dem Motto: welche Theoretiker haben ihn beeinflusst, wen hat er beeinflusst, mit wem kann man ihn vergleichen und so weiter, verzichtet. Dies stiftet nur Verwirrung in einem Programm, das ausdrücklich für Studienanfänger konzipiert ist. Nur Verbindungen zu Autoren, die sich in unserem System (im Netz/in der Vorlesung/im Buch) befinden und deren Verbindung damit durch eine Verlinkung auch im Vertiefungsprogramm Transparenz erhält, werden betont. Die in den Autorenartikeln erwähnten Werke können dann über Links im Text und über die Ankerpunkte unter der Überschrift »Wichtige Schriften« angesteuert werden. Dort finden sich zentrale Zitate aus den (meist) theoretischen Texten, die kommentierend eingefasst sind. Eine Darstellungsweise, die nicht von Anfang an so geplant war, aber sich aus didaktischen wie auch aus rechtlichen Gründen empfiehlt. Denn oft befremden die präsentierten Quellen, gerade wenn sie nur in Ausschnitten zitiert werden, durch ungewohnten sprachlichen Duktus; zugleich ergeben sich durch diese Verarbeitung keine Copyright-Probleme.

Mit Sachartikeln versuchen wir ähnlich zu verfahren. Stellen wir eine literarische Epoche dar, so geht es um die Nachzeichnung einer grundsätzlichen Strömung, nicht um alle Besonderheiten oder Autoren, die ihr zugerechnet werden. Schreiben wir über eine literaturwissenschaftliche Methode, gilt dasselbe: Es sollen nur die Grundgedanken skizziert werden, darüber hinaus verweisen wir auf weiterführende Literatur. Und bei der Angabe der Sekundärliteratur gilt ebenso: »Weniger ist mehr«, meistens werden nur drei Titel genannt. Damit wollen wir der Gefahr der Unübersichtlichkeit begegnen und die Notwendigkeit eigener Literatur-Recherche deutlich machen. Eine weitere Textgruppe sind Popups, die meist nur die Funktion einer schnell zugänglichen Begriffsdefinition haben.

Haben sich die Artikeltypen im Laufe der Projektarbeit relativ konsensuell herauskristallisiert, so gab es zu einem anderen Thema immer wieder kontroverse Diskussionen: Wollen wir einen reinen Hypertext herstellen oder eine Kombination aus Multimedia-Anwendungen und Hypertext (Hypermedia)? Einen Hypertext verstehen wir als vornehmlich textbasiertes Informationssystem, das sich im Gegensatz zum linearen (Buch-)Text durch seine Nichtlinearität auszeichnet. Er besteht nach einer Definition Maximilian Eibls »aus einzelnen Textsegmenten, die durch Verweise (›links‹) miteinander verbunden sind. Eine vom Autor vorgegebene Reihenfolge des Lesens besteht zunächst nicht.«[7] Dagegen kann ein multimediales Programm nicht nur Text, sondern auch Bild, Ton, Musik, Videosequenzen sowie dreidimensionale graphische Räume (unter anderem) enthalten. Auf Videomaterial zu einzelnen Themenkreisen hätten wir durchaus zugreifen können, denn im Zuge der experimentellen Herstellung neuer Unterrichtsmaterialien sind in den vergangenen Jahren auf Initiative von Professor Vogt in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der eigenen und anderer Universitäten, mit Verlegern und Literaturkritikern mehrere Lehrfilme zum Thema »Literatur im Wandel der Medien« entstanden.[8] Auch Autorenporträts sind natürlich leicht zugänglich und hätten schnell eingescannt werden können. Und wie wäre es mit einer Schaltfläche im Methoden-Kapitel gewesen, die durch Anklicken eine sonore Stimme aktiviert hätte, die Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied rezitierte? Ein Gedicht, das ja im Buch exemplarisch durch verschiedene methodische Brillen betrachtet wird. Durch die Ironie ist schon angedeutet, welchen Weg die Diskussionen einschlugen. Das beliebte Gedicht ging dann zwar nicht unter, sondern wurde anderweitig medial verarbeitet. Es entstand die Hörbild-CD Das Schweigen der Vögel oder Goethes berühmtestes Gedicht,[9] aber im Vertiefungsprogramm hatte es keinen Platz, als sich die Frage nach dem didaktischen Sinn oder Unsinn multimedialer Schönheitskuren stellte. Hebt es den Lernerfolg, wenn die Texte mit einigen dekorativen Bildern versehen sind? Was bringt ein Porträt Hegels für den Versuch, seine Geschichtsphilosophie zu verstehen? Wahrscheinlich zerstreuen die Bilder die Konzentration mehr, als dass sie ihr förderlich sind. Aber solche inhaltlichen Überlegungen und Polemiken waren nicht ausschlaggebend dafür, uns gegen Hypermedia zu entscheiden. Natürlich hätten wir auch Argumente für die Integration multimedialer Elemente finden können, zum Beispiel für den Einsatz gesprochener Sprache im Lyrikkapitel, wenn es um Metrum und Rhythmus geht. Zwei Gründe sprachen dagegen: Erstens hatten wir uns selber schon zu oft über die endlose Warterei geärgert, wenn solche Bildseiten aufgebaut werden. Gerade wenn man über das Telefonnetz im Internet recherchiert und jede Sekunde Geld kostet, hat man für solche Programme keine Geduld. Die heutigen Rechner können solche Datenmengen noch nicht schnell genug verwalten. Unser Vertiefungsprogramm will Informationen schnell zugänglich machen. Die Verzögerungen durch die Multimedia-Effekte traten also in Widerspruch zur Informationsvermittlung. Der Ärger, viel Geld und Zeit investiert zu haben, um am Ende nur wenige Informationen mitzunehmen, soll unseren Nutzern erspart bleiben. Zweitens fehlte uns das notwendige technische Know-How, und wir hatten kein Geld, um es einzuwerben.

Das soll nicht bedeuten, dass wir nicht immer wieder Förderungen erhalten hätten. Besonders hervorzuheben sind hier die Mittel, die uns aus dem Programm Qualität der Lehre des nordrheinwestfälischen Wissenschaftsministeriums unter Anke Brunn zugeflossen sind und die die Finanzierung der technischen Seite des Projekts ermöglichten. Außerdem konnten wir auf Grund der Aufgeschlossenheit des Fachbereichs Literatur- und Sprachwissenschaften, der mehrere hochschuldidaktische Internetprojekte unterhält,[10] mit Fachbereichsmitteln rechnen. Der Rest aber wurde aus Bordmitteln finanziert, indem die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor allem in der vorlesungsfreien Zeit zur Produktion von Texten herangezogen wurden.

Es bleibt noch von den Reaktionen auf unsere internette Einladung zur Literaturwissenschaftzu berichten. Zunächst: Sie wird auf jeden Fall angenommen. In den ersten anderthalb Jahren hatten wir einen Counter, der reges Besuchsaufkommen verzeichnete, leider war er kostenpflichtig, musste aufgegeben und konnte bis heute nicht ersetzt werden. Aber einen Teil unserer Besucher können wir ja glücklicherweise live und in Farbe sehen, denn in der Übung zur Grundkursvorlesung wird das Projekt vorgestellt und von jedem Erstsemester probehalber aufgesucht. Die Reaktionen sind überwiegend positiv, und die Durchfallquote in der Abschlussklausur hat sich signifikant verringert. Eine gezielte Evaluation haben wir jedoch nicht durchgeführt, denn wie das Buch von Jochen Vogt den Anspruch erhebt, ein Gebrauchstext zu sein, so soll sich auch das dazugehörige Vertiefungsprogramm im Gebrauch beweisen. Trotzdem freuen wir uns immer wieder, wenn wir von Kollegen an anderen Universitäten erfahren, dass sie es im Rahmen ihrer Grundkursprojekte einsetzen. Besonders beliebt ist es in der Auslandsgermanistik, zu der wir in Essen traditionell enge Kontakte pflegen.[11] Als Gründe für die Nutzung werden häufig die Übersichtlichkeit der Informationstexte, die gerade für Fremdsprachler geeignet seien, und die schwierige Bibliothekssituation in den Heimatländern genannt. Es gibt, schlicht gesagt, häufig nicht genügend Fachbücher – und das gilt nicht nur für Russland, sondern etwa auch für Italien. Einem Fachpublikum haben wir uns Anfang 2000 auf der Didacta in Köln vorgestellt, einer Bildungsmesse mit dem Schwerpunkt neue Medien für Schule, Hochschule und Weiterbildung, auch hier waren die Reaktionen durchweg wohl wollend. Im Jahr 2002 wollen wir wieder dabei sein, unsere Weiterentwicklungen vorstellen und uns mit anderen Projektgruppen austauschen.

Zuguterletzt stellt sich die Frage nach weiteren Plänen. Vorerst haben wir eine große Korrekturoffensive gestartet, um Uneinheitlichkeiten im Layout oder in den bibliographischen Angaben, die sich im Laufe der Jahre eingeschlichen haben, auszumerzen. Dann tragen wir uns immer noch mit dem Gedanken, ein interaktives Moment in das Programm einzubauen, zum Beispiel in Form von Probeklausuren, einer betreuten Mailing-Liste oder einem virtuellen Tutorium. Aber unser dringendstes Ziel ist der Abschluss aller Schreibarbeiten. Wir alle träumen davon, dass der letzte Artikel endlich geschrieben ist. Ob dies jemals passiert? Erst vor drei Monaten haben wir das Programm nochmals um die in Jochen Vogts Einladung genannten literarischen Autoren ergänzt.

Fazit: Unser Programm hat zwar schon laufen gelernt, aber es steckt noch in den Kinderschuhen. Manchmal scheint ein Ende in Sicht, das sich dann aber wieder als Fata Morgana erweist. Ich kehre also zum Anfang zurück und schließe den Erfahrungsbericht mit der Erkenntnis, dass ein solches Internetprojekt letztlich unabschließbar ist.

Elke Reinhardt-Becker (Essen)

Elke Reinhardt-Becker, M.A.
Universität GHS Essen
Fachbereich 3, Fub VII Universitätsstr. 12
45117 Essen
elke.reinhardt-becker@uni-essen.de


(26. November 2001)
[1] Der Einladung zur Literaturwissenschaft können sie unter folgender Adresse folgen: <http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/einladung.htm> (5.11.2001).
[2] Die Mitarbeiter der Projektgruppe waren oder sind vornehmlich Doktoranden bei Professor Jochen Vogt. Für die Erstkonzeption zeichnet er mit Dr. Dagmar Spooren verantwortlich, zu den Mitarbeitern gehören Tanja van Hoorn, M. A.; Torsten Pflugmacher, Steffen Richter, M. A. und Dr. des. Joachim Ziemßen. Die technische Realisation und Gestaltung besorgte bis Ende 2000 Sabine Laukien, M. A.; ihre Nachfolgerin als technische Redakteurin ist Brigitte Lohmanns. Die Projektleitung liegt bei Elke Reinhardt-Becker, M. A.
[3] Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft.. München: Fink 22000, S. 282.
[4] Ebd., S. 282.
[5] Bei allen Kapiteln, Namen, Titeln und Begriffen, die nicht unterstrichen sind, fehlen das zugehörige Kapitel bzw. der zugehörige Artikel noch. An einigen Stellen fehlt der Link aber nur, weil kein Artikel geplant ist. So z.B. wenn sich der Einfluss eines Autors auf die Literaturwissenschaft in einem Text erschöpft und so ein Personalartikel überflüssig wird.
[6] Dazu auch Kevin Larson/Mary Czerwinski: Web Page Design. Implications of Memory, Structure and Scent for Information Retrieval. In: Proceedings of the CHI '98 (1998), S.25-32.
[7] Maximilian Eibl: Hypertext, Multimedia, Hypermedia, In: Georg Braungart/Karl Eibl/Fotis Jannidis (Hg.): Jahrbuch für Computerphilologie 2. Paderborn: mentis 2000, S. 35-67. Siehe auch folgende Internet-Adresse <http//computerphilologie.uni-muenchen.de/jg00/maxeibl/maxeibl2.html> (1.10.2001).
[8] Literaturbetrieb heute – unter diesem Titel stehen zwei Video-Kassetten im VHS-Format zur Verfügung. Aus unterschiedlichen Perspektiven werden die vielfältigen Erscheinungen des literarischen Lebens der Gegenwart anschaulich gemacht. Sie richten sich an Dozenten und Studierende der Literatur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft. Die Kassette 1 enthält zwei Features: Wer mischt mit? Aspekte des Literaturbetriebs und Bleistiftsorgen – Autor oder Lohnschreiber von Gisela Kern, Kassette 2 umfasst vier Expertengespräche: Die Literatur der Bundesrepublik (Prof. Heinz Ludwig Arnold, Publizist), Wieso Bücher? (Prof. Dr. Klaus Wagenbach, Verleger), Der Büchermarkt (Dr. Uwe Rosenfeld, Verlagsvertreter) und Funktionen der Literaturkritik (Dr. Ludgera Vogt, Soziologin). Außerdem gibt es noch Expertengespräche: Literatur und Medien, Prof. Dr. Erhard Schütz; Homer — Vater des Erzählens, Prof. Dr. Justus Cobet; Bild und Text im Mittelalter, Prof. Dr. Horst Wenzel; Kultbuch und Briefkultur: Goethes »Werther«, Prof. Dr. Hans-Peter Herrmann und Die Erzählung und das Erzählen, Prof. Dr. Jochen Vogt. Alle Videos können zum Selbstkostenpreis über Prof. Dr. Jochen Vogt angefordert werden. Adresse: Universität Essen, Fachbereich 3: Literatur und Sprachwissenschaften, 45117 Essen, E-Mail: jochen.vogt@uni-essen.de.
[9] Gisela Kern/Jochen Vogt/Thomas Strauch/Renate Hauser: Das Schweigen der Vögel oder Goethes berühmtestes Gedicht. Ein Hörbild. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag 1999.
[10] Z.B. das Lehr- und Lernsystem KOLOSS (Kommunikationswissenschaftliches Lern-Online-Software-System) der Kommunikationswissenschaftler, erreichbar unter der URL <http://www.kowi.uni-essen.de/koloss> (5.11.2001), und der beachtenswerte Linguistik-Server Essen LINSE <http://www.linse.uni-essen.de> (5.11.2001).
[11] Über ERASMUS in SOKRATES, das EU-Programm für studentische Mobilität, können Essener Studierende an siebzehn europäischen Hochschulen von der Università degli Studi di Torino, über das University College Dublin bis zur University of Vaasa studieren. Auch Dozenten dieser Universitäten kommen immer wieder gerne für ein Semester oder ein Blockseminar als Gäste nach Essen.