JOCHEN VOGT: EINLADUNG ZUR LITERATUR-
WISSENSCHAFT. MüNCHEN: FINK 1999
(= UTB 2072).

Dieser Einladung in das Reich der Literaturwissenschaft und der Literatur wird man gerne Folge leisten und kann sie jedem, der sich mit dem Gedanken trägt, Germanistik zu studieren, nur wärmstens empfehlen. In seinem »Kleinen Nachwort für Freunde und Kolleg(inn)en« rechtfertigt der Autor Jochen Vogt sein Unternehmen, erneut eine Einführung in die Literaturwissenschaft auf den Markt zu werfen, vor der fachlichen Zunft. Er beklagt das Fehlen einer »pragmatische[n] Lehrbuch-Kultur« in der Germanistik, im Vergleich etwa zur angelsächsischen Literaturwissenschaft (S. 264). Vogts Klage ist so berechtigt, wie sein Buch geeignet ist, den Weg aus dieser mißlichen Lage zu weisen.

Die Studenten- und Leserfreundlichkeit seiner Einladung zur Literaturwissenschaft kann kaum hoch genug gelobt werden. Sie beginnt schon bei so äußerlichen Merkmalen wie dem griffig-robusten, viel Raum für Notizen bietenden Format des Bandes sowie der anregenden und oft amüsanten Illustration des Textes am Rand durch Bilder, Zitate und kleine Exkurse. Sie setzt sich fort in der Beschränkung der Literaturhinweise auf wenige, wirklich elementare Werke, die noch dazu auf aktuellstem Stand (1999) sind, aber auch Standardwerke der letzten Jahrzehnte mitberücksichtigen. Jochen Vogt schreibt originell und mehr erzählend als belehrend, oder, mit Vogts Worten, im »Vorlesungston« (S. 264) über die Geschichte des Faches, die Grundfragen und methodischen Ansätze der Wissenschaft rund um die deutsche Literatur und die Literaturgeschichte. Der kolloquiale Stil geht selten zu Lasten der gedanklichen Substanz und kommt dafür umso mehr der Verständlichkeit und Lesbarkeit zugute. Nur stellenweise stolpert man über einige allzu salopp daherkommende Bildunterschriften (vgl. etwa S. 52, 55). Kleinere sprachliche Vereinfachungen und unzulässige Pauschalisierungen, wie etwa zur Komödie und der von Bachtin begründeten Karnevalisierung (vgl. S. 143), sind tolerabel, da sie im Interesse der Kürze und um so wenig Wissenschaftsjargon wie möglich, aber doch so viel wie nötig zu verwenden, kaum vermeidbar sind. Entgleisungen jedoch, wie etwa: da »macht es [...] wenig Sinn« (S. 98) sind allerdings störend; ein Anglizismus wie dieser ergibt trotz seiner häufigen Verwendung immer noch keinen deutschen Satz.

Was Vogt an den herkömmlichen Einführungen bemängelt, ist, daß es sich bei ihnen in der Regel entweder um »faktenorientierte Paukbücher« oder um »ehrgeizige Methodenrevuen« handele (S. 263). Beides will sein Buch nicht sein. Stattdessen mißt es das weite Feld der Literaturwissenschaft in verschiedene Richtungen aus, mit dem Ziel, dem Studienanfänger eine Vorstellung davon zu vermitteln, worauf er sich einläßt, wenn er sich für das Studium der Literaturwissenschaft entscheidet. Auch für Fortgeschrittene in Sachen Literaturwissenschaft ist das Buch aufgrund des guten Überblicks und der erhellenden Kontextuierung beziehungsweise der sinnvollen Vernetzung der einzelnen Themen und Kapitel eine brauchbare Lektüre. Eine Auflistung rhetorischer Stilfiguren oder arbeitstechnischer Anweisungen wird man darin genauso vergeblich suchen wie einen vollständigen Abriß der Geschichte literaturwissenschaftlicher Methoden. Vogts Darstellung folgt keinem systematischen Selbstzweck, sondern orientiert sich an Problemen: Auf was für Gegenständen und Erkenntnisinteressen gründet das Fach Literaturwissenschaft? Welche Inhalte und Fragestellungen umfaßt es? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt in zwölf Kapiteln durch die verschiedenen Disziplinen und Dimensionen des Faches, und Grundsätzliches, so die drei Gattungen und die damit verbundenen Textstrukturen, wird auf jeweils etwa fünfzehn Seiten referiert. Manche herkömmliche Ordnung wird im essayistischen Gang der Argumentation auseinandergerissen; so finden sich zum Beispiel Ausführungen zur Methodik außer in Kapitel neun »Gibt es Methoden in der Literaturwissenschaft?« auch in Kapitel zwei »Die Literaturwissenschaft auf der Suche nach ihrem Gegenstand« und Kapitel drei »Regeln und Probleme des Textverstehens: Hermeneutik«. Manche zentrale Frage, wie etwa »Was ist Literatur?«, wird im Verlauf des Buches mehrmals neu gestellt und, je nach dem bisher erreichten Informationsstand, modifiziert beantwortet.

Zum Nachschlagen bestimmter Fakten oder Begriffe ist Vogts Buch von seiner Konzeption her also nicht geeignet. Daß es keinen Index enthält, wirkt da nur konsequent. Schon schwerer wiegt in einer Einführung in die Literaturwissenschaft ein Fehler wie die zweimalige Gleichsetzung des Schweifreims mit dem umarmenden Reim (vgl. S. 117, 122). Um noch einen Moment bei den kritischen Anmerkungen zu bleiben: Auch wenn man die grundsätzliche Intention, keinen vollständigen Methodenkatalog liefern zu wollen, gutheißt – eine etwas ausführlichere Berücksichtigung poststrukturalistischer Methoden wäre schon wünschenswert gewesen. Sie hätten ja bequem unter dem Oberbegriff »anti-hermeneutische Strömungen« in das Kapitel über Hermeneutik aufgenommen werden können. Selbst wenn man wie Vogt diesen Strömungen skeptisch gegenübersteht, wie seine abschätzige Behandlung der Kittlerschen Diskursanalyse im Methodenkapitel zeigt, – eine stärkere Berücksichtigung hätten sie schon allein aus dem pragmatischen Grund verdient, daß es für einen Studienanfänger, der sich zum ersten Mal mit der verwirrenden Fülle der Forschungsliteratur auseinandersetzen muß, von elementarer Wichtigkeit ist, sich des grundsätzlichen Unterschieds zwischen hermeneutischen und anti-hermeneutischen Methoden bewußt zu sein und letztere erkennen zu können. Auch kulturwissenschaftliche Fragestellungen, die sich zunehmend größerer Beliebtheit erfreuen, hätten wenigstens der Erwähnung bedurft – aber derartige Kritikpunkte gehen auch schon weit über das hinaus, was diese Einladung wohl leisten kann und will.

Sinnvoll und anregend ist die Ausweitung dieser germanistischen Einführung in eine europäische Literaturgeschichte, mit Hinweisen auf Don Quijote, auf Umberto Eco oder auf Werke der englischen (Welt-)Literatur. Befremdlich hingegen ist die Auswahl einer amerikanischen Kurzgeschichte, die als Textbeispiel zur exemplarischen Analyse vollständig abgedruckt ist (vgl. S. 98-102). Auch wenn O. Henrys Short Story zu den Höhepunkten des Genres gehört – gerade hier gäbe es, inspiriert von der amerikanischen Tradition, in der deutschen Nachkriegsliteratur genug Beispiele.

Positiv hervorzuheben ist bei Vogt dagegen die Aktualität seiner Ausführungen zur bildungspolitischen Debatte um das Krisenfach Germanistik, zur notwendigen Neupositionierung der Literaturwissenschaft im Kontext der neuen Medien sowie zu Fragen literarischer Wertung und literarischer Sozialisation. Der Autor reflektiert und thematisiert seine eigene Vorgehensweise selbst immer wieder, so daß im Verlauf der Darstellung die wissenschaftlichen Methoden selbst unaufdringlich in actu und als metawissenschaftliches Verfahren vorgeführt werden. Insgesamt ist Jochen Vogt ein Buch gelungen, das seinen Titel Einladung zur Literaturwissenschaft wirklich verdient: ein Buch, das dazu reizt, es in die Hand zu nehmen und in einem Rutsch durchzulesen, weil es umfassend anregt und informiert und dabei gleichzeitig Spaß macht. Von wievielen Einführungen in die Literaturwissenschaft kann man das behaupten?

Zur Einladung gehört ein um Materialien erweitertes Internet-Vertiefungsprogramm. Es ist über die Adresse <http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/einladung.htm> (20.05.2000) zu erreichen. Nicht nur die zahlreichen Verweise auf dieses Programm im Buch selbst stellen die Verbindung vom gedruckten zum digitalen Text her. Schon das ansprechende Layout der Einladung zur Literaturwissenschaft erinnert durch die breiten Randspalten mit Verweisen auf Zusatzinformationen, mit Illustrationen, prägnanten Zitaten und Literaturhinweisen an ein Fenster beziehungsweise dient wie ein Link als Aufforderung zur selbständigen Fortsetzung des Gelesenen, als eine ins unendliche Lektüre- und Bibliotheksnetz führende Tür. Damit wird das eigentlich konservative Medium Buch zum originellen und kreativ anregenden Mittel der Informationsvermittlung. Im Vergleich dazu wirkt die Hypertext-Einladung wie ein ›alter Hut‹; ihre ungerichteten Vernetzungen sind dem Medium nicht angemessen, beziehungsweise dessen Möglichkeiten wurden nur rudimentär umgesetzt.

Das Internet-Vertiefungsprogramm ist vor allem eine Textsammlung mit Artikeln im Lexikonformat. Seine größte Stärke liegt in dem Angebot, hier auch all jene Primär- und viele Sekundärtexte, die Vogt nur erwähnt, wenigstens in prägnanten Ausschnitten anzubieten. Dieses Projekt ist daher vor allem eine Serviceleistung für Studierende, da hier die Texte zum Herunterladen leicht verfügbar sind; die Texte sind oft mehrere Seiten lang, werden also meist ausgedruckt oder als Word-Dateien an ihren neuen Verwendungsort importiert. Die Links sind nicht hierarchisiert und die Texte in der Folge unendlich zu verketten, so daß man nach kurzer Zeit kaum noch weiß, in welchem Bereich man sich gerade befindet. Als Links sind zentrale Begriffe und Namen markiert, am Schluß jedes Eintrags sind knapp der Quellennachweis und wichtige Titel der Forschung – auch hier nicht mehr als etwa drei bis fünf – genannt.

Das noch im Aufbau befindliche und natürlich prinzipiell unabschließbare Vertiefungsprogramm ist ein Lexikon mit besonders reichhaltigen und interessanten Textbeispielen, etwa mit Auszügen aus Aristoteles Poetik oder Gustav Freytags Technik des Dramas, so in der Abteilung »Dramentheorie« beziehungsweise im Falle Aristoteles auch für die »Theorien der Textproduktion: Rhetorik und Poetik«. Die Klassiker der Hermeneutik sind in der betreffenden Abteilung zu finden, von Spinoza über Friedrich Schleiermacher bis zu Sigmund Freud und Karl Marx. Vilèm Flussers Unglaubliche Geschichte wird als neuere Literaturgeschichte zur Diskussion gestellt gegenüber Beispielen aus Georg Gottfried Gervinus' oder Joseph Nadlers national-deutschen Literaturgeschichten. Die hier versammelten Darstellungen und Definitionen, von Epochen über rhetorische Mittel bis zu Begriffen wie ›Genie‹ und ›offenes Drama‹, und die Charakterisierungen zentraler Personen, Wissenschaftlern wie Autoren, zeichnen sich nicht mehr durch den angenehm leichten Ton Jochen Vogts aus, sondern sind weitgehend sachlich, beschreibend und im Fachjargon ebenfalls zurückhaltend verfaßt. Die Kürze der Eintragungen bedingt auch hier vereinfachende, mißverständliche Formulierungen, die jedoch im Netz vereinzelter stehen und eben nicht mehr direkt – wie im Buch – kontextuiert und damit relativiert werden, so daß sie hin und wieder erklärungsbedürftig wirken, etwa die Kategorie ›naiv‹, wenn erklärt wird, daß »der Roman [...] ursprünglich eine naive Erzählung ritterlicher Abenteuer war«.

Auf die das Medium Hypertext eigentlich attraktiv machenden multimedialen Möglichkeiten verzichtet das Programm vollständig: kein Bild, kein Ton, keine Einspielung, keinerlei Hinweis auf diese Medien, auch nicht etwa beim Drama, das gattungsdominierende Eigenschaften ja gerade aus der Inszenierung gewinnt. Ein gravierendes Manko ist das Fehlen einer Suchfunktion, dank derer schnell und präzise individuelle Begriffe, Themen oder Autoren gefunden werden könnten. Der Studierende, der hier fündig werden will, muß schon vorher gezielt suchen und wissen, in welchen übergeordneten Kontext sein Suchbegriff, seine Person gehört. Daß dann keine Übungen zur Verfügung stehen, die Vogt in seinem Nachwort (vgl. S. 264) als Bestandteil seiner Trias »Vorlesung (hier vorliegend)«, »Studienmaterial (gedruckt/elektronisch)« und eben »Übungen« aufführt, ist bedauerlich, wenn auch – bei dem Aufwand, den derartige Hypertext-Module bedeuten – verständlich.

Insgesamt bleibt nach der Lektüre der Eindruck, der Einladung zur Literaturwissenschaft gerne Folge geleistet zu haben und sie nachdrücklich und durchaus mit Begeisterung weiterempfehlen zu können. Das Internet-Vertiefungsprogramm ist nicht mehr und auch nicht weniger als das, was es im Buch genannt wird: eine Ergänzung und Materialsammlung.

Ruth Petzoldt/Lutz-Henning Pietsch (Regensburg)

Dr. Ruht Petzoldt
Lutz-Henning Pietsch, M.A.
Institut für Germanisik
Universität Regensburg
93040 Regensburg
ruth.petzoldt@sprachlit.uni-regensburg.de
lutz-henning.pietsch@sprachlit.uni-regensburg.de

(1. Oktober 2000)