FASELEI ONLINE.
VORÜBERLEGUNGEN ZU EINER INTERNET-PUBLIKATION VON BETTINE VON ARNIMS WERK

Für Sibylle von Steinsdorff zum 2. April 2000.

Abstract:

This essay suggests a website edition of Bettine von Arnims complete works, including all her correspondances, concepts and other manuscript material. Crucial arguments in favor of such an edition are first von Arnim's constant interweaving of published books and private correspondances which lent her writings their specific network structure; second the problem of handling the sources, von Arnim's papers partly having disappeared after an auction in 1929 and the rest being scattered wide. To give plausibility to these argu-ments the essay sketches the works' net structure as well as the state of the manuscript sources.

Der Begriff ›Faselei‹ hat im Werk Bettine von Arnims eine besondere Bedeutung: Er steht dort, wo die Autorin in Auseinandersetzung mit Normen und Traditionen eine ihr eigentümliche Poetik des Verstoßes gegen Normen und des Bruches von Traditionen postuliert, ohne dabei das Wesen dieser Poetik je anders als mit pauschalen, in ihrem ironischen Gestus fast schon wieder uneigentlich zu lesenden Etiketten wie eben dem der ›Faselei‹ zu beschreiben. So legt sie beispielsweise in dem 1840 erschienenen Erinnerungsbuch Die Günderode, der Bearbeitung ihres Jugendbriefwechsels mit der Freundin Karoline von Günderrode, der Briefpartnerin Karoline eine Mahnung in den Mund, die bezeichnenderweise als von ihrem - Bettines - Bruder Clemens Brentano stammend markiert wird: »Ich soll Dein faselig Wesen zur Besonnenheit bringen«, schreibt Karoline an die Freundin, »Der Clemens meint Du habest ein enormes Talent zu jeder Kunst, [...] Deine Selbstzufriedenheit hänge davon ab, daß Du Dich mit Leib und Seel einmal dran gebest, es sei der Schlüssel Deines ganzen Lebens.«[1] Und auch die dergestalt Ermahnte berichtet ihrerseits von derartigen Äußerungen Clemens': »›Es ist alles recht lieblich was Du da vorbringst‹, sagte er - ›aber werd nur nicht faselig, manchmal ängstigt michs was aus Dir werden soll, Du zersplitterst Deinen Geist, mit dem Du Dir eine so herrliche Freiheit erringen könntest.‹«[2]

Kontext dieser Bemerkungen ist das Bemühen Clemens', die begabte Schwester zum Dichten zu ermutigen - nicht allerdings zum Dichten im Sinne eines Bestrebens nach selbständiger Autorschaft, sondern im Sinne der Aneignung von gesellschaftlichen Ordnungsrastern, in deren Rahmen der schreibenden Frau das Verfassen von Briefen oder bestenfalls die Ausführung männlicher Schreibaufträge zugewiesen ist. Erst in der Verinnerlichung dieser Ordnungsraster kann die Frau zu der von Clemens beschworenen ›Freiheit‹ gelangen - einer Freiheit, die idealiter in der willentlichen Übernahme weiblich codierter Formen von Autorschaft und dem ebenso willentlichen Verzicht auf Übergriffe in die männliche Domäne von zur Publikation bestimmter Literaturproduktion zur Vollendung gelangt. Die Geschichte Günderrodes, wie Bettine sie in ihrem Erinnerungsbuch erzählt, ist die Geschichte eines tragischen Scheiterns am Konflikt zwischen weiblicher Rollennorm und männlich privilegiertem Werkbegehren. Bettine erlebt den Selbstmord Günderrodes im Sommer 1806 als traumatisch und verarbeitet ihn dann, mehr als dreißig Jahre später, in einer zu großen Teilen fiktiven Korrespondenz, in der Karoline, die mit einem durch und durch klassischen Sprach- und Formeninstrumentarium agierende Dichterin, sich zumindest teilweise zur Erfüllungsgehilfin von Clemens Brentanos Versuchen macht, Bettine zu erziehen. Damit repräsentieren Karoline wie Clemens in der Günderode eine Konvention geordneten Schreibens, von der Bettine sich vehement abgrenzt:

Nein es ist eine Unmöglichkeit ein Buch zu machen aus dem was mir durch den Kopf geht es ist ungehobeltes Zeug was sich sperrt wenns in Gedanken soll gefaßt werden. - [...] Ihr gebt Euch Mühe meine Gedanken zu konzentrieren (auf etwas fest richten soll das glaub ich heißen) das ist aber grad was nie geschehen wird [...].[3]

»[E]in Buch zu machen«, heißt in diesem Zusammenhang, in sich geschlossene Texte wie diejenigen herzustellen, die Karoline in Übernahme unter anderem des normativen Werkbegriffs der klassischen Autonomieästhetik verfaßt. Im Kontrast zu dieser Übernahme, für die die Autorin der Günderode eine kausale Beziehung zu Karolines Selbstmord suggeriert, betreibt Bettine den systematischen Ausbau des geschmähten Faselns zu einem Schreiben, dessen ›ungehobelte‹ Ergebnisse Versuche zur editionsphilologischen Erschließung ihres Werks mit einer spezifischen Problemstellung konfrontieren: Die publizierten Teile dieses Werks nämlich – neben den vier Erinnerungsbüchern Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835), Die Günderode, Clemens Brentano’s Frühlingskranz (1844) und Ilius Pamphilius und die Ambrosia (1848) die beiden an Friedrich Wilhelm IV. adressierten Schriften Dies Buch gehört dem König und Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Theil (1852) sowie die sogenannte ›Polenbroschüre‹ (1848) und das Gedicht Petöfy dem Sonnengott (1851) – sind nicht nur untereinander so eng verbunden, daß sich die Entstehungsgeschichten der einzelnen Texte kaum trennscharf voneinander ablösen lassen, sondern sie stehen darüber hinaus mit den privaten Korrespondenzen Bettines auf der einen und ihren unpublizierten Projekten wie dem sogenannten Armenbuch auf der anderen Seite in einem Verhältnis gegenseitiger Durchlässigkeit, das, weit davon entfernt, ein herstellungstechnisches Beiprodukt zu sein, vielmehr im Sinne einer übergreifenden Vernetzung seiner unterschiedlichen Ebenen das eigentliche Bauprinzip dieses Werks bildet.

In seinem berühmten Artikel Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe erhebt Siegfried Scheibe 1971 für solche Ausgaben einen Vollständigkeitsanspruch, der, so sehr er der Darstellung dieses Bauprinzips auf den ersten Blick entgegenzukommen scheint, diese auf den zweiten Blick faktisch ausschließt, und dies nicht nur wegen der physischen Grenzen des Mediums Buch:

[..] aus der Kombination von überlieferten Materialien, zu denen Vorstufen, Schemata, sogar Exzerpte aus Büchern anderer Autoren gehören, und der Hinzuziehung und Auswertung von Entstehungszeugnissen, wie sie in Tagebucheintragungen, in Briefen und Notizen des Autors sowie seiner Freunde und Mitarbeiter vorliegen, läßt sich ein ganzes System von Koordinaten errichten, in die die überlieferten Textzeugen eingefügt werden können, und aus deren Platz innerhalb des Bezugssystems Schlußfolgerungen auf die Geschichte des Werks gezogen werden können.[4]

Das von Scheibe angestrebte »System von Koordinaten« zieht schon vor der Bestandsaufnahme am Einzelfall eine Grenze durch das je zu organisierende Œuvre – eine Grenze zwischen den ›Entstehungszeugnissen‹ als subsidiärer im Gegensatz zum Werk als gewissermaßen ›eigentlicher‹ Textsorte: »Werke«, so hält Scheibe noch 1991 programmatisch fest, »heißen Texte, die nach der Intention des Autors für die Öffentlichkeit bestimmt und entweder in autorisierten Zeugen oder deren Stellvertretern oft in verschiedenen Textfassungen überliefert oder durch Zeugnisse bezeugt sind.«[5]

Die Redundanzen vom autorisierenden Autor und den bezeugenden Zeugnissen markiert die Trennlinie, an der die Applikation des von der klassischen Literatur installierten teleologischen Werkbegriffs der bürgerlichen Moderne auf das Werk Bettine von Arnims schon zu Lebzeiten der Autorin schwer bis unmöglich war. Einzig das Erstlingswerk Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde konnte von den Anfängen der Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert zunächst als sensationelle Quellenpublikation und wenn auch etwas überspannte Hommage an den »legitimen olympischen Vater der deutschen Poesie«[6] goutiert werden; schon die späteren Erinnerungsbücher aber und dann vor allem Bettines politische Schriften verfehlten die Lektüregewohnheiten eines Publikums, das, am leserfreundlichen Informationsmanagement nachklassischer und vormärzlich-frührealistischer Konsum- wie Agitationsprosa geschult, sich in Bettines Texten, ganz abgesehen von ihrer arabesken Diktion, mit zwei überaus widerständigen Phänomenen konfrontiert fand: Zum einen signalisierte Bettine zwar deutlich, daß sie fiktionalisierend in die von ihr jeweils verarbeiteten Originalquellen eingriff, nicht aber, in welchem Ausmaß sie dies tat, und erzeugte so besonders in den Erinnerungsbüchern einen Irritationseffekt, der sich der Auflösung durch das binäre Ordnungsraster von autorisiertem Text und subsidiärem Zeugnis verweigerte; zum anderen plazierte sie in ihren Texten Gelenkstellen, die auf den systemischen Charakter ihres Gesamtwerks hinweisen sollten, innerhalb der jeweiligen Texte selbst aber nicht entschlüsselbar waren und damit als ebenfalls ein erhebliches Irritationspotential einspeisende Leerstellen erschienen – mit dem Ergebnis, daß das, was an sich als konzeptionelle Forderung der Autorin an ihre Leserschaft angelegt war, von dieser zumeist als künstlerisches Unvermögen rezipiert wurde.

In den vergangenen Jahren sind die normativen Implikationen des traditionellen Werkbegriffs – seiner Grenzziehung zwischen Fact und Fiction auf der einen und seiner Forderung nach der strukturellen Selbstgenügsamkeit jedes einzeln publizierten Textes auf der anderen Seite – fragwürdig genug geworden, daß Max Wehrli 1991 im Anschluß an Umberto Ecos Plädoyer für das offene Kunstwerk gar mit der Formel vom »Reiz der Korruptel« kokettieren kann: »[...] auch dann, wenn eine Lesart als irrig und der Text als korrigierbar überführt worden ist«, so Wehrli, »kann der Fehler, die Korruptel einen Sachverhalt aufzeigen, der für das Verständnis des Textes und seiner Offenheit wichtig ist. Insofern lebt der Textkritiker von diesen offenen Stellen, in denen der Text aufbricht und in Bewegung gerät.«[7] Für die Fact-Fiction-Unschärfen in Bettines Werk ebenso wie für die Technik der Leerstellenplazierung ist eine solche Nobilitierung der Korruptel auf der Ebene gewinnbringend, auf der noch immer gegen die kategorischen Imperative der Autonomieästhetik um die Akzeptanz des Offenheitsparadigmas gerungen werden muß. Setzt man jedoch beim editionsphilologischen Umgang mit diesem Werk seine Offenheit als rezeptionsästhetische Strategie der Autorin voraus, dann ist der »Reiz der Korruptel« jenem 1998 von Klaus Hurlebusch aufgegriffenen »Topos der Veränderbarkeit des Textes«[8] zu unterstellen, das unter dem Einfluß der französischen Critique Génétique auch im deutschen Sprachraum zunehmend die Voraussetzungen einer »Hermeneutik textgenetischen Schreibens«[9] schafft, durch die »die Idee ›des‹ Werkes [...] ihrer rezeptionsbezüglichen Attribute des Vollendeten, Geschlossenen, Endgültigen, Dauerhaften entkleidet wird und stattdessen die produktionsbezüglichen Eigenschaften des Beendeten, Fertiggestellten erhält.«[10]

Eine Auseinandersetzung mit den produktionsbezüglichen Eigenschaften von Bettines von Arnims Werk legt in dem Moment, in dem dieses Werk textgenetisch erschlossen wird, über die Vielstimmigkeit des schöpferischen Prozesses hinaus, wie sie sich im oftmals nicht abschließend klärbaren Verhältnis zwischen Entwürfen, Varianten, Lesarten, verwandten Texten und endlich ›dem‹ Text abzeichnet, das Phänomen frei, daß diese Vielstimmigkeit selbst von der Autorin intentional auf die Vernetzung sämtlicher Ebenen ihres Werks hin angelegt ist. So gehört es zu den Eigentümlichkeiten dieser Vernetzung, daß sie sich dokumentarchronologisch bis in Bettines Jugend zurückverfolgen läßt, von ihren Anfängen an aber auch Gegenstand massiver Stilisierungen ist, so daß Bettines Lebenszeugnisse schon lange vor ihrem ersten öffentlichen Auftreten als Autorin die exakte Unterscheidung von Fact und Fiction unterlaufen. Ort und zugleich Möglichkeitsbedingung dieser Stilisierungen ist ein Netz von Korrespondenzen, in dem ein Briefwechsel zwischen zwei Personen immer auch eine an die anderen Briefpartner adressierte Inszenierung ist, deren Reaktionen ihrerseits wieder diese Inszenierung beeinflussen – mit dem Effekt, daß das, was Bettine später aus ihren Korrespondenzen zu Drucktexten formt, faktisch auch von den in diesen Texten nicht explizit genannten Partnern der ursprünglichen Netzkonstellation partiell mitverantwortet wird. Dasselbe gilt für das Verhältnis des Drucktexts selbst zu während seiner Fertigstellung von Bettine geführten Korrespondenzen. Im Einzugsbereich von Bettines politischer Tätigkeit erweitert sich dieses System schöpferischer Interferenzbeziehungen zwischen Quell- und Auxiliarbriefwechseln um einen weiteren Bereich, der sich im engeren Sinne – bezogen auf die Einbettung der gedruckten Texte in zur Zeit der Drucklegung stattfindende Korrespondenzen mit Einzelpersonen – als den der Zielbriefwechsel und im weiteren Sinne – bezogen auf Bettines Öffentlichkeitsarbeit über Salonkultur und Presse – als den eines interaktiven Publikumsbezugs beschreiben läßt. Dabei macht selbst eine kursorische Bestandsaufnahme von Bettines schriftlichem Nachlaß, so weit er bis heute bekannt ist, die zentrale Bedeutung dieser Interferenzbeziehungen deutlich – nicht, dies sei an dieser Stelle ausdrücklich vorausgeschickt, im Sinne einer pauschalen Nivellierung der Unterschiede zwischen gedruckten und ungedruckten Texten und einer ebenso pauschalen ästhetischen Gesamtwertung; das System als Ganzes funktioniert vielmehr gerade über diese Unterschiede, insofern die Spannung zwischen privater und öffentlicher Arbeit von der Autorin darin ebenso instrumentalisiert wird wie diejenige zwischen echter und bearbeiteter Quelle oder etwa zwischen Flugschrift und Gedicht. Unter Berücksichtigung dieses intentionalen – und als solchen auch als autorisiert zu behandelnden – Spiels mit derartigen Differenzen gilt es demnach programmatisch festzuhalten, daß vor allem Briefwechsel, aber auch, soweit sie dokumentiert ist, die im semiöffentlichen Raum des Salons entwickelte Öffentlichkeitsarbeit und nicht zuletzt der interaktive Publikumsbezug auf dem Weg über die Presse in Bettines Werk nicht einfach für die Entstehungsgeschichte ihrer gedruckten Schriften auszuwertende Materialbestände sind, sondern als Strukturen einen Teil ihres Werks bilden, der, wenn er durch die Trennung von autorisiertem Drucktext und Kommentierung separiert und hierarchisiert wird, seine ursprünglich für dieses Werk konstitutive Bedeutung verliert.

Das Bauprinzip von Bettine von Arnims Werk[11] tritt bereits an ihrem Umgang mit den drei Quellbriefwechseln zu den Erinnerungsbüchern Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, Die Günderode und Clemens Brentano’s Frühlingskranz zutage, beginnen diese doch lebensgeschichtlich in gegenüber den späteren Publikationen umgekehrter Reihenfolge: Der Briefwechsel mit Clemens setzt nach dem Wiedersehen der beiden Geschwister nach langer Trennung im Oktober 1797 ein, zwei Jahre später beginnt die Freundschaft Bettines mit Karoline von Günderrode, der erste überlieferte Brief an Goethes Mutter datiert vom 17. Mai 1807 und der erste überlieferte Brief an Goethe vom 15. Juni desselben Jahres. Obwohl die Korrespondenzen mit Clemens und Günderrode beide nur fragmentarisch erhalten und die Druckmanuskripte der späteren Erinnerungsbücher, in die Bettine vermutlich die Originalbriefe eingefügt hatte, verloren sind, lassen sich zwischen den drei Quellbriefwechseln eine Reihe von historischen Berührungspunkten ausmachen. So bildeten zunächst die Korrespondenzen zwischen Clemens und Bettine und Günderrode und Bettine zwei Seiten eines Dreiecks, deren dritte von der oben angedeuteten Beziehung zwischen Clemens und Günderrode gestellt wurde. Alle drei Korrespondenten kommunizierten miteinander wiederholt und mit großer Selbstverständlichkeit auch auf dem Weg über den oder die Dritte und gaben einander Briefe des je Anderen weiter, ein Verfahren, das in Bettines Arbeit an Die Günderode insofern seinen Niederschlag fand, als von den insgesamt neun nachweisbar in den späteren Text eingegangenen Originalbriefen allein vier Briefe Günderrodes an Clemens, ein Brief von Bettine an Claudine Piautaz - die Haushälterin ihres Halbbruders Georg – und nur die übrigen vier Briefe von Günderrode an Bettine sind.[12] Fungiert demnach der Briefwechsel Bettines mit Clemens sowohl als Quellbriefwechsel für den Frühlingskranz als auch als primärer – also von Bettine selbst betriebener – Auxiliarbriefwechsel für Die Günderode und umgekehrt der mit Günderrode sowohl als Quellbriefwechsel für Die Günderode als auch als primärer Auxiliarbriefwechsel für den Frühlingskranz, so dient derjenige zwischen Clemens und Günderrode als sekundärer Auxiliarbriefwechsel nachweisbar für Die Günderode und, dem späteren Drucktext zufolge, in dem wiederholt Zitate daraus erscheinen, auch für den Frühlingskranz.

Beide Korrespondenzen verhalten sich ihrerseits dann auch als Auxiliarbriefwechsel zu Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, allerdings in unterschiedlicher Positionierung. Aus der Beziehung Bettines zu Clemens entspringt eine Grundvoraussetzung für Bettines Selbststilisierung im historischen Umgang mit Goethe, insofern Clemens Bettine im Herbst 1801 zur Lektüre von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre und damit zur Identifikation mit der Figur des naturhaften Androgyns Mignon ermutigt, in der die Romantik ihr Ideal des weiblichen Génie Enfant verdichtet findet. In dieser Rolle nähert Bettine, in Männerkleidung nach Weimar gereist, sich Goethe nicht nur am 23. April 1807 erstmals persönlich, sondern reklamiert auch durch den gesamten historischen Briefwechsel hindurch Goethes Anteilnahme als Anteilnahme des Autors an der von ihm selbst geschaffenen Kreatur. Gleichzeitig bildet die Korrespondenz mit Clemens und daneben die 1801 begonnene mit seinem Jugendfreund Achim von Arnim eine Art Echoraum, in dem Bettine den Verlauf ihres Briefwechsels mit dem von den beiden jungen Autoren verehrten Goethe in den Briefen an diese nicht nur referiert, sondern auch nach Maßgabe der von ihnen vertretenen romantischen Kunstlehre überformt und aus den Gegenbriefen ihrerseits Impulse für die Korrespondenz mit Goethe bezieht. Die Korrespondenz mit Günderrode schließlich – immer wieder inhaltlich auch eng mit derjenigen mit Arnim verknüpft – beeinflußt den Quellbriefwechsel mit Goethe und seiner Mutter historisch insofern, als der von Günderrode ausgehende Bruch mit Bettine unmittelbar zum Auslöser von Bettines Beziehung zu Katharina Elisabeth Goethe und damit mittelbar auch zu dem der Beziehung mit Goethe wird, und bildet schließlich, in Gestalt eines auf die fünf Jahre später erscheinende Günderode vorausweisenden Aufrisses der zerbrochenen Freundschaft, im ›Goethebuch‹ die entscheidende Gelenkstelle zwischen dem Text der Korrespondenz mit Frau Rat und dem der eigentlichen Korrespondenz mit Goethe selbst.

Zu den Auxiliarbriefwechseln in der Entstehungsgeschichte des ›Goethebuchs‹ gehören darüber hinaus die Korrespondenzen mit Max Prokop von Freyberg, Philipp Hössli und Fürst Hermann von Pückler-Muskau. Der Briefwechsel mit Freyberg, einem Studenten des 1808-10 in Landshut lehrenden, mit Bettines Schwester Kunigunde verheirateten Juristen Friedrich Karl von Savigny, beginnt im Mai 1810, nach der Abreise der Savignys und Bettines aus Landshut nach Berlin, und wird von beiden Partnern bis zu Bettines Hochzeit mit Arnim intensiv, danach in immer größer werdenden Abständen aufrechterhalten. In dieser Korrespondenz erprobt Bettine, die zeitgleich Goethe gegenüber geradezu leitmotivisch dessen erzieherische Fürsorge für ihre Entwicklung einfordert, die Rolle derjenigen, die dem vier Jahre jüngeren Freyberg ihrerseits solche Fürsorge zuteil werden zu lassen versucht, so daß sich diese Korrespondenz, inhaltlich ohnehin häufig mit Bettines Briefwechsel mit Goethe befaßt, in weiten Teilen strukturell geradezu spiegelbildlich zu diesem verhält. Ein vergleichbares Bild bietet die Korrespondenz mit Philipp Hössli, auch er ein Schüler Savignys, der, im Februar 1821 zum Studium nach Berlin gekommen, Bettine im Kreis von Savignys Familie vermutlich im Mai dieses Jahres erstmals begegnet, sich im September 1822 für zwei Wochen in Wiepersdorf aufhält und in den eineinhalb Jahren, die zwischen seinem Aufbruch von dort zu einer längeren Reise und seiner Rückkehr nach Berlin im April 1824 lagen, einen dichten Briefwechsel mit Bettine pflegt. Wohl auch des größeren Altersunterschieds wegen – Bettine war fünfzehn Jahre älter als Hössli – sind die respektiven Positionen von Belehrender und Belehrtem hier schärfer konturiert als in dem Briefwechsel mit Freyberg; vor allem aber nutzt Bettine in dieser Korrespondenz den historischen Briefwechsel mit Goethe bereits als eine Art Materialfundgrube für mehr oder minder anekdotische Mitteilungen an Hössli, in denen der aktuell an Hössli gerichtete pädagogische Diskurs sich mit gelegentlich ausgeprägt fiktionalen Selbststilisierungen verbindet, die, im Originalbriefwechsel mit Goethe nicht auffindbar, dann später im ›Goethebuch‹ wieder auftauchen. Vollzieht Bettine solcherart in der Korrespondenz und den in seinem Tagebuch aufgezeichneten Gesprächen mit Hössli den Schritt von der aktiven gegenseitigen Durchdringung zeitgleich stattfindender Briefwechsel hin zur Nutzung eines späteren Briefwechsels für poetische Fingerübungen zum Umgang mit einem früheren, so geht sie dann in der Korrespondenz mit Pückler noch einmal entscheidend weiter: Der Briefwechsel mit Pückler, begonnen im Januar 1832, dient ihr ab dem Zeitpunkt, zu dem sie nach Goethes Tod im März des Jahres an ihrem ›Goethebuch‹ zu arbeiten beginnt, als Experimentierfeld für die Verfahren, mit denen sie den Quellbriefwechsel mit Goethe zum späteren Drucktext überformt, angefangen von der Erprobung einzelner Motive bis hin zum Grundprinzip der Vereinnahmung des Gegenübers zum Objekt der eigenen Schreibinszenierung – ein Modell, bei dem der anfangs geschmeichelte Pückler am 22. August 1832 seine Kooperation mit der berühmten Formel von Bettines »bloßer Gehirnsinnlichkeit«[13] verweigert, um dann, als Bettine ihn auf die Bedeutung ihrer Korrespondenz mit ihm für die Entstehung ihres Buchs hinwies, im Namen der Kunst deren Weiterführung zu konzedieren:

Ist Dir [...] jene alte Art unserer Korrespondenz, wie Du sagst, nöthig, um Dein Werk über und an Goethe zu vollenden, so schreibe wie Du willst, denn es wäre sehr grausam von mir, wenn ich Dich und die Welt um etwas so Schönes, Originelles, ja vielleicht Einziges in seiner Art bringen wollte, als dieses Werk ohnfehlbar werden muß [...].[14]

Schließlich erweitert Bettine die Auxiliarfunktion dieser Korrespondenz im fertigen Buch gleich zweifach zu derjenigen eines Zielbriefwechsels, einmal, indem sie das Buch explizit an Pückler dediziert, zum anderen, indem sie Auszüge ihrer Briefe an ihn in den letzten Teil des ›Goethebuchs‹ einfügt, in das fiktive Tagebuch ihrer Liebe zu Goethe, und damit die Beziehung zwischen Quell- und Auxiliarbriefwechsel, nur für Pückler lesbar, umkehrt: Hier ist nicht mehr der Briefwechsel mit Pückler Inzitament ihrer Auseinandersetzung mit Goethe, sondern der Text über Goethe Medium ihrer Auseinandersetzung mit Pückler.

Auch für die 1840 erschienene Günderode lassen sich neben den bereits genannten zwei mit der Entstehung des Drucktexts korrelierte ganze Auxiliarbriefwechselkomplexe ausmachen: Da sind einmal die beiden parallel und häufig auch in gegenseitiger Überschneidung verlaufenden Briefwechsel Bettines mit dem Jurastudenten Julius Döring und dem Industriellensohn Philipp Nathusius, die die berühmt gewordene Autorin des ›Goethebuchs‹ in ihrem Salon aufgesucht hatten und, wie früher Hössli, nach ihrem Abschied von Berlin zu Adressaten brieflicher Erziehungsbemühungen durch Bettine werden, diesmal allerdings mit einer bereits klar spezifizierten politischen Zielsetzung, der Erziehung zukünftiger Staatsdiener zu eigenverantwortlichem ethischen Handeln; aus diesen beiden Briefwechseln entsteht die Zueignung der Günderode an die Studenten als politischen Hoffnungsträgern. Da ist auf der anderen Seite Bettines Korrespondenz mit den 1837 als zwei der Göttinger Sieben von König Ernst August von Hannover entlassenen Professoren Jakob und Wilhelm Grimm, ehemaligen Schülern Savignys und engen Freunden des 1831 verstorbenen Arnim, die Bettine 1812 den ersten Band der Kinder- und Hausmärchen gewidmet hatten, eine Korrespondenz, die nach verschiedenen Seiten offen gestaltet ist: Um die Berufung der Brüder nach Berlin zu erreichen, läßt Bettine Briefe der Brüder in Berliner Gesellschaftskreisen zirkulieren, in der Absicht, die Akademiemitglieder Lachmann, Ranke und auch Savigny zur Unterstützung zu bewegen, lanciert einen ihrer eigenen Briefe an Wilhelm Grimm in zwei Zeitungen, um den Druck zu verstärken, nimmt mit Erbgroßherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach Kontakt auf, um ihm, im Falle er die Brüder Grimm nach Weimar holen würde, die Günderode zu widmen – des zu erwartenden Konflikts mit dem König von Hannover aber kam dies für das kleine Fürstentum nicht in Frage –, schreibt einen umfangreichen politischen Bekenntnisbrief an Savigny, den sie in einer ganzen Reihe von Abschriften in so gut wie alle ihre aktuellen Korrespondenzen einspeist, und beginnt schließlich auch ihren Briefwechsel mit dem damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, in dessen Kontext die 1839 noch ungebunden an ihn gesandte Günderode sowohl Bettines Entschlossenheit zum politischen Eingreifen auf dem Weg der Briefpublikation als auch bereits ihren Plan andeutet, den Kronprinzen gleich früher den Studenten zu erziehen. Damit richtet Bettine Die Günderode an gleich zwei Adressaten: Die darin enthaltene Botschaft für den preußischen Kronprinzen ist nur im Rahmen von Bettines erster vorsichtiger Kontaktaufnahme mit diesem lesbar, erhebt also diese Korrespondenz vorerst indirekt zum Zielbriefwechsel; die Widmung »Den Studenten« dagegen kann und soll, entsprechenden Briefen Bettines zufolge, von Döring und Nathusius unmittelbar auf sich bezogen werden.

Mit dem Briefwechsel mit Kronprinz Friedrich Wilhelm, der nach dem Tod seines Vaters im Sommer 1840 als Friedrich Wilhelm IV. den preußischen Thron bestieg, beginnt die Entstehungsgeschichte von Dies Buch gehört dem König. Er ist für dieses Buch zugleich Quell-, Auxiliar- und Zielbriefwechsel – Quellbriefwechsel, insofern Bettine sowohl Briefe des Königs an sie als auch eigene Briefe an ihn darin einarbeitet; Auxiliarbriefwechsel, insofern einzig der persönliche Kontakt Bettines zum König die Widmung ermöglicht und das Buch dann auch an der Zensur vorbeibringt, ein Vorgang, der im vormärzlichen Preußen des Jahres 1843 einmalig ist; Zielbriefwechsel, insofern Bettine neben den inhaltlichen Anliegen, die sie dem König mit ihrem Buch nahezubringen sucht, durch die eingefügten Zitate aus ihrer privaten Korrespondenz mit ihm das Buch gezielt in diese Korrespondenz einbettet, vermag doch nur der König selbst die in diesen Zitaten enthaltenen Anspielungen zu entschlüsseln. Die Differenz zwischen dem veröffentlichten Text des ›Königsbuchs‹ und der privaten Korrespondenz spielt dabei ihrerseits eine zentrale Rolle beim Publikumsbezug des Buchs, sorgt Bettine doch über mehrere Multiplikatoren vor Erscheinen des ›Königsbuchs‹ dafür, daß die Tatsache ihrer privaten Korrespondenz mit dem König allgemein bekannt ist und solcherart ihrem Buch ein besonderes Gewicht verleiht. Bei diesen Multiplikatoren handelt es sich um die in ihrem Salon verkehrenden Publizisten Moriz Carriere, Adolf Stahr, Heinrich Bernhard Oppenheim und vor allem Karl August Varnhagen von Ense, deren Korrespondenzen mit Bettine seit Ende der dreißiger Jahre sämtlich für das Funktionieren ihres politischen Werks unabdingbare Auxiliarbriefwechsel bilden, ganz abgesehen von Varnhagens Diaristik, zu der Bettine mit ihren Erzählungen unter anderem über ihren Kontakt zum König so bewußt wie erheblich beiträgt, und ihrer Korrespondenz mit Alexander von Humboldt, der als Vertrauter des Königs hinsichtlich der Widmung des ›Königsbuchs‹ und später sowohl betreffs des Armenbuchs als auch in der Polenfrage zwischen Bettine und Friedrich Wilhelm vermittelt.

Neben den besonders rezeptionsbezüglich bedeutsamen Auxiliarbriefwechseln sind drei weitere zu berücksichtigen, die die Produktion des ›Königsbuchs‹ entscheidend beeinflussen: Erstens der Briefwechsel mit Goethes Mutter, die, als ›Frau Rat‹ wichtigste Sprecherin des ›Königsbuch‹-Textes, über die bearbeitete Version von Bettines Briefwechsel mit ihr im ›Goethebuch‹ sowohl auf dieses selbst als auch auf dessen historische Grundlagen zurückverweist; zweitens die Korrespondenz Bettines mit dem jungen Schweizer Heinrich Grunholzer, dem Verfasser des dokumentarischen Anhangs zum ›Königsbuch‹, die bereits auf Bettines Arbeit am Armenbuch-Projekt überleitet; schließlich die namentlich innerhalb des Textes überhaupt nicht eingeholte, nichtsdestoweniger aber für die Entstehung des Buchs zentrale Korrespondenz Bettines mit Kronprinz Karl von Württemberg, die für das ›Königsbuch‹ dieselbe Funktion erfüllt wie diejenige mit Pückler für das ›Goethebuch‹. Während Bettine nämlich ihre Korrespondenz mit Friedrich Wilhelm IV. in den Jahren der Niederschrift des ›Königsbuchs‹ 1841 und 1842 fast vollständig ruhen läßt, erprobt sie in diesem Zeitraum in ihren Briefen an den württembergischen Kronprinzen, der sich im Frühjahr 1841 kaum achtzehnjährig in ihrem Salon eingestellt und schnell engen Anschluß an die Familie gefunden hatte, bis in Details hinein eben diejenigen Argumente, die sie gleichzeitig für das ›Königsbuch‹ ausarbeitet, so daß ihr Anteil an dem Briefwechsel mit Karl von Württemberg wie eine Serie von Entwürfen zum fertigen Text des Buches wirkt; nach Erscheinen des Buchs verliert die Korrespondenz dann ebenso bald ihre ursprüngliche Dynamik wie einst diejenige mit Pückler.

Bei Bettines Arbeit am Armenbuch verschieben sich die Konturen von Quell- und Auxiliarbriefwechseln gegenüber den vorgenannten Schriften. Zum einen fällt die Differenz zwischen historischem Material und seiner publikationsorientierten Fiktionalisierung weg, gilt es Bettine doch hier die ungeschminkte und als solche nachweisbare Darstellung von Realität. Zum anderen hat das Projekt als einziges der von Bettine zum Druck geplanten Werke nicht einmal entfernt die Form oder Funktion eines Briefs oder Briefwechsels, und die Korrespondenzen, die Bettine während seiner Entstehung führt, dienen weder der Erprobung von Argumenten und Darstellungstechniken noch der Einbettung des Projekts in einen von Bettine bereits vorgestalteten Kommunikationskontext, sondern treten vielmehr in aktiven Austausch mit dem journalistischen Diskurs, in dem seit den zwanziger Jahren das Problem des sogenannten Pauperismus, der Massenarmut des vierten Standes in Preußen, öffentlich diskutiert wird, mit dem Ziel, möglichst viel authentisches Material zur Veröffentlichung zusammenzutragen. In diesem Sinne fungiert zunächst die bereits erwähnte Korrespondenz mit Heinrich Grunholzer als Auxiliarbriefwechsel, weiter diejenige mit dem Arzt Isidor Pinoff aus dem schlesischen Schweidnitz, der am 24. Februar 1844 in Nummer. 47 der Breslauer Zeitung einen nach dem Vorbild des von Grunholzer verfaßten Anhangs zum ›Königsbuch‹ geschriebenen Artikel verfaßt, diesen der Autorin des ›Königsbuchs‹ zuschickt und sie auf ihre Bitte hin fortan nicht nur mit weiteren Aufzeichnungen und einem Großteil der für den Druck im Armenbuch bestimmten Armenlisten versorgt, sondern es auch übernimmt, Bettines Publikationsvorhaben in die Breslauer Zeitung zu lancieren, in einer Notiz, die seinen eigenen Brief an die Autorin wörtlich zitiert. Ein weiterer Auxiliarbriefwechsel ist derjenige mit dem Hirschberger Papierfabrikanten Friedrich Wilhelm Schloeffel, mit dem Bettine Anfang März Kontakt aufnimmt und der ebenfalls bereitwillig eigene Materialien zum Druck schickt; am 15. Mai schließlich geht Bettine selbst mit einem Aufruf in der Magdeburger Zeitung an die Öffentlichkeit, in dem sie um die Zusendung von statistischen und sonstigen Mitteilungen über die aktuelle Armut bittet, mit erheblicher Breitenwirkung, wie sich an den vielfältigen Briefen unter dem erhaltenen Armenbuch-Material ablesen läßt.

Eben diese Breitenwirkung sabotiert jedoch dann die Fertigstellung des Projekts und veranlaßt Bettine dazu, auch für dieses Projekt statt des für das Armenbuch vorgesehenen Publikumsbezugs auf ihre Korrespondenz mit dem preußischen Königshaus als Zielbriefwechsel zurückzugreifen, allerdings in einer indirekten Form, in der ihre Korrespondenz mit Alexander von Humboldt vor allem im Jahr 1844 die Rolle von Medium und Filter zugleich übernimmt: Humboldt wird von Bettine mit der Übermittlung der Druckfahnen für die den Rötelmarkierungen auf dem Dokumentarmaterial zufolge immerhin 272 bereits gesetzten Seiten ihres Armenbuchs beauftragt, da Bettine angesichts der angespannten politischen Lage nicht das Risiko eingehen will, vom König selbst direkt abgewiesen zu werden. Angesichts der Tatsache, daß eine Reaktion des Königs geradezu betont ausbleibt, unterläßt Bettine es fortan ganz, den König mit breitangelegten politischen Entwürfen zu konfrontieren, zieht sich stattdessen ihm gegenüber auf das Mitleidsprivileg der Frau zurück, um in dessen Schutz wenigstens die Sache Einzelner vertreten zu können, und ergreift von dort aus dem König und seinem Bruder gegenüber in einer selbstverfaßten Denkschrift Partei für die Freilassung Schloeffels, der unter anderem seiner Tätigkeit für Bettine wegen 1845 unter Anklage des Hochverrats verhaftet und erst nach monatelangem Gefängnisaufenthalt aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt wird.

Während ihrer Arbeit am Armenbuch wird der Frühlingskranz im Mai 1844 von der preußischen Zensur konfisziert, einmal deswegen, weil es im Verlag Egbert Bauers erschienen war, des Bruders des notorischen Junghegelianers Bruno Bauer, zum anderen der angeblich respektwidrigen Widmung des Buchs an Prinz Waldemar von Preußen wegen, einen mit Bettines älteren Töchtern Maximiliane und Armgart befreundeten Cousin des Königs, der zu den regelmäßigen Gästen in Bettines Salon gehört. Die endlich erfolgende Freigabe des Buchs, einmal mehr vom König selbst veranlaßt, täuscht jedoch nicht darüber hinweg, daß die Verknüpfung von Bettines publizistischer Tätigkeit mit ihren privaten Kontakten zum Königshaus inzwischen zunehmend problematisch wird, so daß die Veröffentlichung des im Umfeld des Armenbuchs 1845 entstehenden sogenannten ›Heckebeutel‹-Märchens, eines an Prinz Wilhelm von Preußen adressierten angeblichen Berichts über die kommissarische Vergabe von Almosen durch die Familie Arnim mit erheblichen sozialkritischen Untertönen, ebenso unterbleibt wie die des von Bettine gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter Gisela verfaßten Märchenromans Gritta von Rattenzuhausbeiuns mit seinen satirischen Anspielungen auf Königshaus und Regierung. Gerade der Komplex der Märchen aber repräsentiert seinerseits einen bisher kaum rezipierten Strang in Bettines Werk, reicht er doch zurück bis in die Zeit der von Arnim herausgegebenen Zeitschrift für Einsiedler, für die Bettine 1808 erste – ebenfalls ungedruckt bleibende – Märchenentwürfe verfaßt, zieht sich von dort aus über die Beziehung zu den Brüdern Grimm, die ihre späteren Auflagen der Kinder- und Hausmärchen mit immer neuen Widmungen an Bettine versehen, bis in die Poetiken des ›Goethebuchs‹, der Günderode und des ›Königsbuchs‹ hinein und fächert sich in den vierziger Jahren in einer Reihe von Koproduktionen Bettines mit ihren Töchtern im biedermeierlichen Kreis der Kaffeter-Gesellschaft auf, vor deren Hintergrund Bettine dann nach der Revolution von 1848 Texte über das politische Potential des Märchens entwirft.

Ilius Pamphilius und die Ambrosia wiederholt das Strukturprinzip der früheren Erinnerungsbücher mit einem Unterschied, der die ursprünglich politischen Wurzeln auch dieses Projekts markiert: Quellbriefwechsel dieses Textes ist nicht eine Korrespondenz mit einem bereits Verstorbenen, sondern diejenige mit Philipp Nathusius alias Ilius, neben Döring einer der beiden Repräsentanten der politischen Erneuerungshoffnung, die Bettine in die in ihrem Salon verkehrenden Studenten einst gesetzt hatte; Dörings Weigerung, seine Erlaubnis zur Integration seines Briefwechsels mit Bettine in das entstehende Buch zu geben, plaziert diesen in der Position eines innerhalb des Textes wiederholt angespielten und gelegentlich auch zitierend einbezogenen Auxiliarbriefwechsels. Ein Punkt, an dem sich der Ilius von sämtlichen publizierten oder zur Publikation geplanten Schriften Bettines unterscheidet, ist das Fehlen einer Widmung, in dem sich hier eine spezifische Form des Publikumsbezugs kristallisiert, enthält doch der Ilius einen Entwurf des idealen Lesers von Bettines Schriften, denen das Buch implizit wie explizit durchweg den Status von Auxiliartexten zuweist, und richtet sich als solcher an das lesende Publikum schlechthin.

Erheblich komplexer dagegen gestaltet sich bereits wieder das Verhältnis der im Dezember 1848 mit einer Vordatierung auf 1849 gedruckten Flugschrift Die Polen der aufgelös’ten preußischen Nationalversammlung. Stimmen aus Paris, der sogenannten ›Polenbroschüre‹, zum Gesamtgefüge der aktuellen Korrespondenzen, lassen sich dieser Schrift doch allein drei eng miteinander verflochtene Korrespondenzen – mit Hortense Cornu, Ludwik Mieroslawski und seiner Schwester und endlich die auch hier wieder teilweise über Humboldt geführte mit Friedrich Wilhelm IV. – als Quellbriefwechsel und weitere drei – mit Julia Woykowska-Molinska, Pauline Steinhäuser und Bettines Söhnen Friedmund und Siegmund – als Auxiliarbriefwechsel beziehungsweise –briefwechselkomplexe zuordnen. Hortense Cornu hatte Bettine bereits im April 1846 darum gebeten, sich der Sache der Polen anzunehmen, die nach einer Denunziation des für Januar 1846 geplanten Aufstands gegen die Besetzung Polens durch die drei Großmächte Österreich, Rußland und Preußen polnischen Revolution inhaftiert und unter Anklage des Landesverrats erster Klasse zur Verhandlung nach Berlin überstellt worden waren. Bettine hatte Cornus Briefe teilweise in Abschrift über Humboldt an den König weiterleiten lassen und damit immerhin die Zusage erwirkt, der Anführer des Aufstands, Mieroslawski, werde nicht nach Rußland ausgeliefert, wo ihm mit Sicherheit die Todesstrafe gedroht hätte. Ende 1847 war Xavière Mazurkiewicz, Mieroslawskis Schwester, von Paris aus in Berlin eingetroffen und hatte sich, als ihr dort die Erlaubnis zum Besuch bei ihrem Bruder verweigert wurde, hilfesuchend an Bettine gewandt, die ihrerseits Mazurkiewicz’ Schreiben an den König weitersandte. Die Briefe, in denen Bettine selbst um den Jahreswechsel 1847/48 in dieser Sache wiederholt an den König appelliert, markieren in ihrer Intensität und Dichte einen letzten Höhepunkt in ihrer Beziehung zu Friedrich Wilhelm IV., einen Höhepunkt allerdings, der zugleich das faktische Ende dieser Beziehung bedeutet, führt doch die Vehemenz, mit der Bettine hier die Sache der Polen vertritt, von Seiten des Königs zu einem irreversiblen Bruch.

Die genannten drei Korrespondenzen verdienen den Namen des Quellbriefwechsels insofern, als alle drei deutliche, teils punktuell verifizierbare, teils konzeptionelle Spuren in der späteren Broschüre hinterlassen: Das Pseudonym »St. Albin«, unter dem Bettine die

›Polenbroschüre‹ veröffentlicht, spielt auf das Pseudonym »Séb. Albin« an, mit dem Hortense Cornu ihre französische Übersetzung von Bettines ›Goethebuch‹ gezeichnet hatte; Mieroslawski, dessen Korrespondenz mit Bettine, vermutlich durch Vermittlung seiner Schwester, spätestens nach seiner Befreiung im Zuge der Märzrevolution von 1848 einsetzt, wird von Bettine mehrfach namentlich und dies auch in Zusammenhängen erwähnt, von denen sie aller Wahrscheinlichkeit nach von ihm Kenntnis gehabt haben dürfte. Der Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm IV. schließlich stellt in doppelter Hinsicht zumindest einen Teil der Grundlage, auf der Bettine die Broschüre ausarbeitet, zum einen, insofern die von ihr an den König gerichteten Briefe, durchweg überaus sorgfältig komponierte Texte, die Argumentationslinien der Broschüre in einer Weise vorwegnehmen, die als sicher annehmen läßt, daß Bettine sie ihrer Arbeit als Entwürfe zugrunde legte; zum anderen, insofern – wie im ›Königsbuch‹ – verschiedene mehr oder minder wörtliche Zitate aus den Briefen des Königs an Bettine stammen, so daß diese Korrespondenz nicht nur als Quellbriefwechsel, sondern darüber hinaus implizit auch einmal mehr als Zielbriefwechsel des Drucktextes auszumachen ist.

Die aufgeführten Auxiliarbriefwechsel dagegen dienen, ähnlich den Korrespondenzen mit Pückler und Karl von Württemberg, der Autorin während ihrer Arbeit zur Bestandsaufnahme und Reflexion ihres Faktenmaterials ebenso wie zur experimentellen Überprüfung ihrer Argumentationsverfahren; ersteres gilt vor allem für ihre Korrespondenz mit Pauline Steinhäuser, der Gattin des Bildhauers, der zur selben Zeit mit der Ausführung von Bettines Goethedenkmal befaßt war, in der die Berichte der Vorgänge in Berlin im Sommer 1848 zum größten Teil die öffentliche Debatte um die Teilautonomisierung Polens referieren und kommentieren, letzteres für ihre Briefe an die beiden Söhne Friedmund und Siegmund, die, der politisch zutiefst unterschiedlichen Standpunkte der Empfänger wegen – Friedmund teilt die kritische Haltung seiner Mutter, während Siegmund als preußischer Diplomat dieser Haltung durchweg mit aggressiver Ablehnung gegenübersteht – ein aufschlußreiches Bild der verschiedenen Strategien bietet, die Bettine für die öffentliche Präsentation ihres Standpunktes entwickelt, und als solches die endgültige Form dieser Präsentation als eine Mischform des Erprobten sichtbar macht. Für Bettines Korrespondenz mit Julia Woykowska dagegen, die möglicherweise auf die von deren Mann 1848 veranstaltete polnische Übersetzung von Armgarts Märchen Mondkönigs Tochter zurückgeht, läßt sich zwar kein konkreter Einfluß auf den Drucktext nachweisen, gerade diese Korrespondenz aber gehört in ihrer Ausrichtung auf das Projekt selbst sehr viel eindeutiger als die vorigen in dessen Entstehungsgeschichte, insofern zu einem frühen Zeitpunkt von Bettines Arbeit der Plan im Gespräch war, die Broschüre nach dem Muster von Bettines Erinnerungsbüchern als Briefwechsel zwischen ihr und Woykowska zu gestalten – ein Plan, der unter anderem wohl deshalb nicht ausgeführt wurde, weil sich die ideologischen Positionen der radikal preußenkritischen Woykowska und der noch immer auf eine Wiederherstellung ihres freundschaftlichen Verhältnisses zu Friedrich Wilhelm IV. bedachten Bettine nicht vereinbaren ließen.

Bettines letztes großes Buch endlich, das 1852 erschienene Alterswerk Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Teil, vereinigt das besonders vom Ilius bereits exponierte Verfahren der intertextuellen Bezugnahme auf die von ihr publizierten Texte mit der Vernetzung des Buchs mit Quell-, Auxiliar- und Zielbriefwechseln. Auf der Ebene der intertextuellen Bezugnahme tritt Bettine, den Ilius dabei nachdrücklich überschreitend, in einen Dialog mit ihren früheren Publikationen ein, der die Bedeutung dieser Publikationen für ihr Gesamtwerk reflektiert: Einerseits verweist sie auf ihre vier Erinnerungsbücher als auf die Folie für die autobiographischen Elemente der Gespräche und beschwört damit den historischen Charakter der diesen Büchern zugrundeliegenden Quellbriefwechsel, andererseits beruft sie sich gleichzeitig auch auf die Qualität vor allem des ›Goethebuchs‹ als eines Kunsttextes, um ihren Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung als Autorin zu legitimieren, und verfaßt darüber hinaus eine Serie von vier Entwürfen, die, unter der gemeinsamen Überschrift Auf der Trausnitz bei Landshut 1810. An Goethe von ihr als Aufzeichnungen für das ›Goethebuch‹ ausgewiesen, einiger historischer Anspielungen darin zufolge erst während der Arbeit an den Gesprächen entstanden sein können und als solche ihre für das Jahr 1849 bezeugte ursprüngliche Absicht dokumentieren, die Gespräche selbst als Fortsetzung nicht des ›Königsbuchs‹, sondern des ›Goethebuchs‹ zu konzipieren. Ihre politischen Schriften dagegen erscheinen in diesem Dialog durchweg gebrochen, angefangen vom Anschluß der Gespräche an das ursprüngliche ›Königsbuch‹ durch ihre Untertitelung als Des Königsbuches zweiter Teil, der von der diesmal ausdrücklich gerade nicht an Friedrich Wilhelm gerichteten Dedikation des eigentlichen Textes an den »Geist des Islam/vertreten durch den großmütigen/Abdul Medschid-Khan/Kaiser der Osmanen« konterkariert wird, bis zum immer wieder neu aufgenommenen Rückgriff auf die Inhalte des ›Königsbuchs‹ als Anliegen, die der König einst nicht hatte wahrnehmen wollen.

Dennoch und wohl auch gerade deswegen liegt auch den Gesprächen noch immer der Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm IV. als zentraler Quell- wie als Zielbriefwechsel zugrunde, bedient sich Bettine doch auch hier wieder des Verfahrens, diese Grundlage in Zitaten aus der Korrespondenz vor allem dem König selbst vor Augen zu führen. Wie bei der Arbeit am ›Königsbuch‹ spielt auch bei der Entstehung der Gespräche eine einzelne Korrespondenz die Rolle des Auxiliarbriefwechsels, diesmal allerdings nicht die mit einem Partner, der, wie Karl von Württemberg, selbst Adressat von Bettines Versuchen der Fürstenerziehung ist, sondern die Korrespondenz mit einem jungen Exilungarn, der von Bettine radikal als selbst insignifikanter Katalysator ihrer Entwurfsschreiben instrumentalisiert wird: Karl Maria Benkert, genannt Kertbeny, interessiert Bettine nur als Übersetzer des ungarischen Volksdichters Alexander Petöfy, der im Freiheitskampf Ungarns gegen die österreichische Besetzung im Sommer 1849 spurlos verschwunden war. Bettine eröffnet die Korrespondenz mit Kertbeny im September 1849 mit einem Brief, der ausdrücklich an den Übersetzer Petöfys adressiert ist, und nutzt sie dann so extensiv für ihre Arbeit daran, daß ganze Passagen ihrer Briefe fast wörtlich Passagen der Gespräche entsprechen; im Zuge dieser Korrespondenz koppelt sie dann auch einen Prosaentwurf für die Gespräche aus deren Text aus, formt ihn in gebundene Rede um und publiziert ihn 1851 unter dem Titel Petöfy dem Sonnengott als eine von Alexander Petöfy an Goethe gerichtete Apostrophe. Wie die Briefwechsel mit Pückler und dem württembergischen Kronprinzen wird dann mit Drucklegung der Gespräche auch dieser Briefwechsel überflüssig – das letzte darin überlieferte Schreiben ist vom 17. September 1852 datiert.

Im Dienst eines Plädoyers dafür, die hier geschilderte Werkstruktur durch ein Hypertextsystem verfügbar zu machen, muß an dieser Stelle zunächst festgehalten werden, daß Bettine von Arnim diese Struktur ganz ohne Zweifel weder in sich teleologisch noch auch überhaupt auf eine potentielle Gesamtpublikation ihres Œuvres hin entwickelt hat. Bei allen aus heutiger Sicht angebrachten ideologischen wie praktischen Einwendungen gegen den traditionellen Werkbegriff ist zu berücksichtigen, daß eben dieser Begriff für die Autorin selbst von erheblicher normativer Bedeutung war, einmal ex negativo, insofern das von ihr praktizierte Strukturprinzip der Vernetzung ungedruckter und gedruckter Texte diesen Begriff gerade in der gegen ihn betriebenen Emanzipationsbewegung präsent hielt, zum anderen auch hinsichtlich ihrer Drucklegungspraxis, die die für die Transparenz ihres Werkprojekts notwendigen Korrespondenzen selbst auch in der von ihr selbst am 1853 veranstalteten Ausgabe ihrer Sämtlichen Schriften nicht mit einbezog und solcherart die Grenze zwischen Zeugnissen und autorisiertem Text de facto reproduzierte. Immerhin aber war Bettine selbst so konsequent wie effektvoll darauf bedacht, vor allem die politischen Teile dieses Werks – und damit diejenigen, die am stärksten von dessen Textsorten und Kommunikationsebenen übergreifender Vernetzung betroffen waren, auch nach ihrem Tod bewahrt und nach Möglichkeit zusammengehalten zu wissen. Angesichts des massiven Widerstands, den ihre Familie, vor allem ihr Sohn Siegmund, ihrem politischen Engagement entgegensetzte, mußte sie – völlig zu recht, wie sich schon vor ihrem Tod zeigte – davon ausgehen, daß diese versuchen würde, ihren schriftlichen Nachlaß nach Möglichkeit zu unterdrücken, wenn nicht gar zu vernichten, und gab daher noch zu Lebzeiten große Teile dieses Nachlasses an Varnhagen weiter, darunter neben ihren Entwürfen zu ihrer Korrespondenz mit Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach und einem Großteil des Briefwechsels mit Jakob und Wilhelm Grimm ganze Konvolute von Entwürfen zu ihrem Armenbuch-Projekt und den Gesprächen; in einem Brief an Humboldt vom 13. September 1856 berichtet Varnhagen, Bettine habe ihm allein »in diesen Tagen für meine Sammlungen an tausend handschriftliche Blätter geschenkt.«[15] Von Varnhagen, mit dem sie seit dem Tod seiner Frau Rahel Levin Varnhagen 1833 eine enge politisch-literarische Zusammenarbeit verband,[16] konnte sie angesichts von dessen Umgang mit den schriftlichen Hinterlassenschaften seiner Frau Rahel Levin Varnhagen gewiß sein, daß er die entsprechenden Papiere vor dem Zugriff ihrer Familie schützen, sie sorgfältig archivieren und nach seinem eigenen Tod testamentarisch an seine Nichte Ludmilla Assing weitergeben würde, die ihrerseits, von ihrem Onkel sorgfältig in den Umgang mit seiner Autographensammlung eingearbeitet, dann auch wenige Jahre nach dessen Tod mit ersten Veröffentlichungen unter anderem von Briefmaterialien Bettines begann.[17]

Heute ist – trotz der aus der Sicht der Forschung verhängnisvollen Versteigerung, bei der die Familie von Arnim 1929 Bettines inzwischen enorm gestiegenen Marktwert zu nutzen suchte, nicht so erfolgreich, wie sie gehofft hatte, aber mit dem Resultat, daß eine ganze Reihe von Manuskripten seither verschollen sind – der größte Teil von Bettines Briefwechseln in der einen oder anderen Form gedruckt verfügbar, und auch ihre Werke, von Waldemar Oehlke erstmals nach Bettines Tod 1920-22 zu einer siebenbändigen Gesamtausgabe zusammengefaßt und von Gustav Konrad und Joachim Müller 1959-63 in fünf Bänden immerhin mit einem Basiskommentar versehen, sind seit 1986, im Gefolge ihres zweihundertsten Geburtstags, Gegenstand zweier parallel – eine davon in der Deutschen Demokratischen Republik, die andere in der Bundesrepublik – entstehender minutiös kommentierter Ausgaben geworden. Je eindrucksvoller aber auf der einen Seite die Brief- und Salonforschung[18] die Notwendigkeit plausibilisiert hat, ihre Ergebnisse gerade für Bettines Werk nicht nur phänomenologisch, sondern strukturell ernstzunehmen, und je größer der wissenschaftliche Vollständigkeitsanspruch der von bisherigen Editoren geleisteten textkritischen und kommentierenden Arbeit ist, desto deutlicher zeigt sich sowohl an den Editionen der Briefwechsel als auch an denen der Schriften, daß die Ergebnisse dieser Arbeit immer auch aporetische Züge tragen: Einerseits ist die Darstellung des Werks als System schöpferischer Interferenzen inzwischen unhinterfragbare Grundlage seiner Erschließung, so daß Briefkommentare stets in extenso auf die Schriften, Kommentare der Schriften aber ebenso extensiv auf die Briefe zurückgreifen, um das je Präsentierte lesbar zu machen. Andererseits aber geht dabei der Gesamtzusammenhang von Bettines Werk selbst dort, wo er nur ausschnitthaft in den Blick genommen wird, faktisch verloren: Selbst noch so differenzierte und reflektierte Kommentierungsverfahren müssen der Gegebenheiten des Mediums Buch wegen bei der Erläuterung von Briefen und Schriften die je andere Werkebene zwangsläufig auf den Status der Materialfundgrube reduzieren, weil beispielsweise ein gemeinsamer Abdruck des Quellbriefwechsels zwischen Bettine, Goethe und seiner Mutter, des ›Goethebuchs‹ und auch nur der wichtigsten Auxiliarkorrespondenz mit Pückler, nicht zu reden von denen mit Freyberg und Hössli, den Umfang jedes Buchs ebenso sprengt wie etwa der gemeinsame Abdruck der Korrespondenzen mit Friedrich Wilhelm IV. und Karl von Württemberg mit dem ›Königsbuch‹ – ganz abgesehen davon, daß die Korrespondenz mit Friedrich Wilhelm IV. mindestens auch an Abdrucke der ›Polenbroschüre‹ und der Gespräche und entsprechend auch an die für diese beiden Schriften relevanten Auxiliarbriefwechsel anzukoppeln wäre.

Das gewichtigste Argument für eine elektronische Edition scheint mir daher das zu sein, daß ein Hypertextsystem, wie es in seinen die Buchedition überschreitenden spezifischen Eigenschaften in letzter Zeit am prägnantesten von Jean-Louis Lebrave beschrieben worden ist,[19] eine Anordnung von Druck- und ›subsidiären‹ Texten wie Briefwechseln ermöglicht, die das Verhältnis beider zueinander zugunsten einer strukturorientierten Lektüre des werkkonstitutiven Interferenzsystems dehierarchisieren und dabei die Differenzen zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Kommunikationsverfahren als nicht minder werkkonstitutive Elemente bewahren kann. Ob es sich nun um die Interferenzen zwischen den Quellbriefwechseln der Erinnerungsbücher untereinander, deren Beziehungen zu Auxiliarbriefwechseln, den Einfluß von weiteren Auxiliarbriefwechseln auf die Entstehung und Fertigstellung der Drucktexte oder die Anschlußstellen zwischen den Drucktexten und ihren Zielbriefwechseln handelt, lassen sich derartige Interferenzen über die Setzung von Links darstellen, mit dem doppelten Gewinn, daß einerseits der Kommentarapparat entschlackt und andererseits die Integrität der in Frage stehenden Texte und Textkomplexe selbst bewahrt bleibt – einmal erfaßt, kann ein Briefwechsel virtuell beliebig oft mit den entsprechenden Drucktextstellen und gegebenenfalls weiteren Materialien und umgekehrt diese mit dem Briefwechsel vernetzt werden. Dieses Verfahren ist besonders dort gewinnbringend, wenn etwa ein Briefwechsel wie derjenige Bettines mit den Brüdern Grimm auf mehrere Texte – das ›Goethebuch‹, die Günderode –, eine ganze Reihe von Briefwechseln – mit Savigny, Dahlmann, Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, Döring, Nathusius, Stahr, Friedrich Wilhelm IV. – und endlich auch auf Bettines Pressearbeit durchlässig ist wie etwa auf eine von Stahr verfaßte Rezension von Nathusius' Gedichten, für die Bettine einige ihrer Briefe an die Brüder Grimm bereitstellt, um auf diesem Umweg einmal mehr auf deren Lage hinzuweisen.

Ein weiteres Fallbeispiel, das an dieser Stelle seiner besondern Eigentümlichkeit wegen noch einmal hervorgehoben werden muß, ist das sogenannte Armenbuch. Das dazu überlieferte Material läßt sich grob in fünf Gruppen einteilen: Da sind einmal acht teils tabellarisch, teils in Fließtext abgefaßte Armenlisten und eine Denkschrift von der Hand Schloeffels, die durch Rötelmarkierungen als für den Druck vorgesehen beziehungsweise bereits gesetzt ausgewiesen sind; da sind zweitens vier Fassungen und eine Variante des sogenannten Nachworts, eines von Bettine entworfenen Begleittextes zum statistischen Teil ihres Buchs; da sind drittens eine Reihe von handschriftlichen Aufzeichnungen Bettines, teils Auszüge und/oder Kommentare zu vorliegenden Publikationen – unter anderem Auszüge aus dem sechsten Kapitel von Georg Svederus' Broschüre Über Industrialismus und Armuth, das sie selbst 1844 herausgegeben hatte, ein Auszug aus Wilhelm Wolffs Artikel Die Kasematten in der Breslauer Zeitung vom 18.11.1843 und eine Liste mit einschlägiger Literatur –, teils Notizen und Entwürfe, deren Umfang von Satzfetzen bis zu seitenlangen Ausführungen reicht und die sämtlich mit dem Pauperismus befaßt sind, ohne deshalb aber unmittelbar an das Nachwort angegliedert werden zu können; da sind viertens zwei Fassungen des sogenannten ›Heckebeutels‹ mit einer Reinschrift des Schlusses und einer Variante von fremder Hand; da ist fünftens eine Sammlung von Zeitungsartikeln und Broschüren zum Thema Pauperismus, handschriftlichen Abhandlungen mit und ohne Unterschrift des Verfassers, Bitt- und sonstigen Briefen, eine Sammlung, die Bettine offenkundig auch lange nach Abbruch des Drucks noch weiterführte.

Allein schon die Heterogenität der Textsorten als solcher, mehr noch aber das Fehlen jeder definitiven Äußerung Bettines zu Aufbau und angestrebter Endform des Armenbuchs, macht die editorische Erschließung dieses Projekts zu einem kaum zu überschätzenden Problem. Werner Vordtriede hat dieses Problem 1962 durch die Entscheidung gelöst, sämtliche von Bettines Hand stammende Materialien des Armenbuchs zu publizieren, und nahm dabei billigend in Kauf, daß ausgerechnet die einzigen nachweislich für den Druck bestimmten Teile des Projekts, die Statistiken, weiterhin unveröffentlicht blieben, eine Entscheidung, die umso anfechtbarer erscheint, als nach wie vor nicht sicher ist, daß das von ihm aufgenommene ›Heckebeutel‹-Märchen überhaupt für das Armenbuch geschrieben wurde. Nachdem Wolfgang Frühwald 1985 nachdrücklich auf die Bedeutung der Statistiken hingewiesen und die Forderung nach einer »nötige[n] kritische[n] Edition und Rekonstruktion«[20] gestellt hat, entbrannte eine kontroverse Debatte über deren Möglichkeiten und Grenzen: Während Hartwig Schultz zwar Vordtriedes Auswahl scharf kritisiert, eine Rekonstruktion des Projekts aber »aus grundsätzlichen Überlegungen [für] aussichtslos«[21] hält, skizziert Härtl 1989 ein erstes Konzept für eine Edition all jener Materialien, die als zum Projekt gehörig bestimmbar sind.[22] Nachdem bedauerlicherweise die von Härtl veranstaltete Edition von Bettines Werken nach den ersten beiden Bänden – den Erinnerungsbüchern – mit dem Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik ein vorläufiges Ende gefunden hat und die des Armenbuches daher derzeit noch aussteht,[23] ist das Projekt im dritten Band der von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff veranstalteten Ausgabe in seiner annähernd ursprünglichen Form – soweit von einer solchen die Rede sein kann – vorgelegt worden, allerdings mit drei im Medium Buch begründeten Einschränkungen: Erstens war es aus technischen Gründen nicht möglich, die tabellarischen Listen im Tabellensatz wiederzugeben; zweitens konnten des Umfangs wegen nicht alle Fassungen des Nachworts abgedruckt werden; drittens und wichtigstens war es angesichts der mangelnden Strukturvorgaben nicht zu rechtfertigen, sämtliche zum Projekt gehörigen Materialien gemeinsam in den Textteil des Bandes zu geben, so daß einige dieser Materialien erst im Kommentarteil und auch dort nicht immer vollständig angeführt werden konnten.

Angesichts dieser im Rahmen eines Buchs nur unter Einbußen darstellbaren Quellenlage auf der einen und der inzwischen weitgehend unbestrittenen sozial- und literaturgeschichtlichen Bedeutung des Armenbuchs auf der anderen Seite potenziert und differenziert es im Kontext von Bettines Gesamtwerk gesehen noch einmal die Argumente für eine elektronische Edition, die sich aus dem Bauprinzip dieses Werks bereits ergeben haben. Daß, wie Hans-Walter Gabler formuliert, »die statische Druckseite nicht eigentlich Ort und Medium ist, Dynamik unmittelbar erfaßbar zu machen«, macht die »[w]echselgestaltige Darstellung von Textentwicklung [...] als ein Grundcharakteristikum der Computeredition im neuen Sinne«[24] für das Armenbuch schon seiner konzeptionellen Fragmentarizität wegen zu einem Desiderat. Eine entsprechende Aufbereitung des Armenbuchs erlaubt erstens, unerachtet herkömmlicher Umfangsrestriktionen sämtliches relevante Material aufzunehmen und als Komplex darzustellen; zweitens seine Anbindung an andere Komplexe – an die Korrespondenzen mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Achim von Arnim, Friedrich Wilhelm IV., Humboldt, dem Gouverneur des württembergischen Kronprinzen Julius von Hardegg, um nur die wichtigsten zu nennen, sowie an die ›Königsbücher‹ und den Komplex der Märchen –, ohne daß diese Anbindung a priori das Verhältnis dieser Komplexe zueinander determiniert.

Zwei weitere Bereiche von Bettines Werk, deren Mitaufnahme in eine Gesamtausgabe ebenfalls schon per se für eine elektronische Edition sprechen, sind ihre bildkünstlerischen Werke und ihre Kompositionen. Beide Bereiche sind ihrerseits eng mit ihren schriftlichen Werken verknüpft. Zur Entstehungsgeschichte des ›Goethebuchs‹ gehört nicht nur ein Zyklus von Bleistiftzeichnungen aus den späten zwanziger Jahren, in denen Bettine, angeblich von Gedichten des Kronprinzen und späteren Königs Ludwig I. von Bayern inspiriert, eine allegorisierende Darstellung des zu des Königs Hochzeit gestifteten Oktoberfests entwarf – Bettine hatte den Kronprinzen 1808 in München kennengelernt, und die Entwürfe, die sie dem König 1830 persönlich vorlegte, weisen in ihrem Gehalt auf die Passage voraus, die sie 1835 über den einstigen Kronprinzen in das ›Goethebuch‹ einfügte –, sondern vor allem ihre Arbeit an einem Goethedenkmal. Diese Arbeit begann im Jahr 1823 mit einem Gipsmodell als Gegenentwurf zu einem Modell des Berliner Bildhauers Christian Rauch und zog sich bis zu dem Zeitpunkt fort, zu dem Erbgroßherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach im Spätherbst 1852 das von Steinhauer lebensgroß ausgeführte Monument in Rom zur Aufstellung in Weimar ankaufte, wo es heute noch aufbewahrt wird. Daneben existiert ein ganzes kleines Œuvre weiterer Zeichnungen Bettines, die bis heute weder kunst- noch werkgeschichtlich ausgewertet sind. Auch Bettines Kompositionen – sie hatte 1808/09 in München Gesang und Kompositionslehre studiert, ihre Studien später weitergeführt und auch ihre Töchter entsprechend auszubilden versucht – stehen in direktem Zusammenhang mit ihrem übrigen Werk, zum einen, insofern sie mehrere Texte Goethes und Arnims in – heute zum Teil bereits neu eingespielte – Liedvertonungen umsetzte, zum anderen, weil sie einige Dutzend ihrer Kompositionen im Sommer 1841 als Broschüre unter dem Titel Dédié à Spontini zugunsten des der Majestätsbeleidigung beschuldigten Berliner Operndirektors Gasparo Spontini publizierte und dergestalt in ihren Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm IV. einband – und auch diese beiden Bereiche wären über die multimedialen Poteniale einer elektronischen Edition in diese ohne weiteres integrierbar.

Die aktuelle Ausgangsposition für das Unternehmen einer elektronischen Edition von Bettine von Arnims Werk bietet insgesamt ein Bild, von dem aus neben der grundsätzlichen Entscheidung für den Vorzug einer strukturell nicht hierarchisierenden gegenüber den herkömmlichen Verfahren zur Erschließung dieses Werks eine zweite Präliminarentscheidung zu fällen ist: diejenige für die Planung einer solchen Edition nicht oder doch nur interimistisch zur Veröffentlichung auf einer CD-ROM, sondern zur Veröffentlichung auf einer Website, die konzeptionell für Aktualisierungen und Ergänzungen nach dem Baukastenprinzip nicht nur von Seiten der Herausgeber selbst, sondern idealiter auch durch unabhängige Einzelbeiträger offen bleibt. Für die Einrichtung einer solchen Website sprechen zwei pragmatische Überlegungen. Das Werk Bettine von Arnims ist bei weitem zu umfangreich und seine Binnenstrukturen zudem zu komplex, als daß eine oder mehrere Personen in einem vernünftigen Zeitraum – das heißt, innerhalb von etwa zehn Jahren – mehr leisten könnten als ›nur‹ die Konvertierung der heute bereits in elektronischer Form vorliegenden Texte und das Authoring unter einer entsprechenden Publikationssoftware; Projekte aber, die schon in ihrer Anfangsplanung derartige Zeiträume überschreiten, erscheinen heute ebensowenig zeitgemäß wie die programmatische Inanspruchnahme editorischer Hegemonialität, wenn demgegenüber die Möglichkeit besteht, einen flexiblen Rahmen für weitgehend offene Projekte zu schaffen. Ein solcher Rahmen könnte innerhalb von vermutlich sogar deutlich weniger als zehn Jahren dergestalt bereitgestellt werden, daß ein vorläufiger Kernbestand – die gedruckten Werke Bettines, die im Zusammenhang mit ihnen bereits erschlossenen Zusatzmaterialien und die wichtigsten Briefwechsel – mit den notwendigen Links versehen auf einer Website installiert und gleichzeitig ein Grundbestand editorischer Richtlinien abrufbar gemacht wird, so daß interessierte Forscher gleichsam als freie Mitarbeiter des Projekts selbständig an dessen Ausbau mitwirken könnten.

Hier schließt auch die Überlegung an, daß eine derartige Website der insgesamt extrem unübersichtlichen Quellenlage zu Bettines Werk sehr viel eher gerecht wird als die Planung einer vollendbaren Gesamtedition. Die vom Reiz der Texte verführten Publikationen immer neuer Einzelstücke, gleich ob sie in einen größeren Briefwechsel gehören oder nicht, führten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein zu einer so breiten Streuung schon des gedruckten Quellenmaterials, daß allein dessen Bestandsaufnahme bei aller Akribie unleugbar störanfällig ist. Sehr viel störanfälliger noch aber ist die Inventarisierung der überlieferten Manuskriptbestände. Für eine Buchedition des Gesamtwerks müßte eine solche Bestandsaufnahme noch vor der Fixierung der editorischen Richtlinien zumindest annähernd abgeschlossen werden – diese Voraussetzung aber für Bettine von Arnims Werk verbindlich zu machen, heißt, eine solche Gesamtedition für dieses Werk von vornherein auszuschließen, weniger deshalb, weil entscheidende Manuskripte seit der Versteigerung von 1929 spurlos verschwunden sind, darunter neben dem Manuskript des Frühlingskranzes die Originale der Briefwechsel mit Schleiermacher und Kertbeny, als vielmehr, weil sie jederzeit wieder auftauchen könnten, und weil darüber hinaus auch immer wieder noch neues Material aus den Nachlässen teils völlig unbekannter Korrespondenten oder sonstigem Privatbesitz in Versteigerungskataloge und Antiquariate gelangt. Eine Website bietet die Möglichkeit zur progressiven Erweiterung der an ihr versammelten Bestände, so daß das gerade bei Bettines Werk jederzeit denkbare Auftauchen von Entwürfen, Briefen und sonstigem Material zu bereits eingestellten Werkkomplexen ohne Reibungsverlust integriert werden und darüber hinaus unter anderem auch das Problem gelöst werden könnte, daß ein umfangreiches Korpus von kleinen und Kleinstbriefwechseln, die keine Einzeledition lohnen, an das Vorhandene anzuschließen und damit nutzbar zu machen sind.

Insgesamt gesehen bedeutet die von Gabler so pointiert zusammengefaßte Erkenntnis, »daß die Computer-Edition bei aller Mit-Bestimmheit durch die Traditionen der Editorik neu als radikal offene Form wissenschaftlicher Diskursivierung gedacht und so auch in den Pragmatiken der Realisierung konzipiert und angelegt sein muß«,[25] für den Umgang mit Bettine von Arnims Werk einen in mehrfacher Hinsicht bahnbrechenden Paradigmenwechsel in der Editionsphilologie. Einmal ganz abgesehen von den technischen und organisatorischen Vorteilen einer Internet-Edition nämlich, die angesichts des spezifischen Charakters von Bettines Werk auf der Hand liegen, schafft eine Erneuerung wissenschaftlicher Diskurskonventionen unter den Vorzeichen eines mediengeschichtlichen Wandels auch ganz grundsätzlich die Möglichkeit dafür, diesen spezifischen Charakter überhaupt erst als einen diskurswürdigen und -fähigen Tatbestand wahrnehmbar zu machen. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein ist dieser Tatbestand – unter anderem, weil er von keiner Edition anders als postulativ vermittelt werden konnte – überwiegend entweder mit dem Etikett der ›romantischen‹ oder mit dem der geschlechtsspezifischen Grenzüberschreitung versehen worden, beides aber, wiewohl sachlich plausibilisierbar, ideologisiert Einzelaspekte des Projekts zuungunsten seiner Gesamtanlage: Die Durchlässigkeit der verschiedenen Werkebenen aufeinander ›romantisch‹ zu nennen, heißt, die konkrete Anbindung des Werks an die literarischen und politischen Kommunikationssysteme des Vormärz gegenüber seinen Wurzeln in der romantischen Kunstlehre zurückzudrängen; dieses Werk aber als Präzedenzfall einer weiblichen Emanzipationsgeschichte zu erklären, heißt, die Bedingungen von Bettines Tätigkeit – die historischen Bewegungsspielräume der Frau in der Öffentlichkeit – zum zentralen Thema ihres Werks zu vereindeutigen, während diese Bewegungsspielräume von Bettine selbst zu keinem Zeitpunkt auch nur explizit kritisch in den Blick genommen, geschweige denn aktiv durchbrochen worden sind. Der Autorin selbst nämlich, und dies könnte mit einer Internet-Publikation ihrer Werke endlich verhandelbar werden, ging es in erster Linie um eine umfassende Kommunikationsästhetik – und in deren Rahmen fungieren die Normen traditionellen Literaturverständnisses durchweg als Folie einer Selbstdarstellung, die noch vor jeder Ideologisierung ganz grundsätzlich auf dem Recht des Individuums auf Teilhabe am gesellschaftlichen Diskursgefüge seiner Zeit insistiert. Nur so ist es zu verstehen, wenn Bettine am 12. Juli 1821 an Johann Nepomuk Ringseis schreibt: »Mißdeuten Sie den rätselhaften Wechsel großer und kleiner Buchstaben nicht; er gehört mit zu meiner Eigentümlichkeit, die sich von der Seite meines geschriebenen Briefes am vollkommensten mit dem Worte Faselei ausdrückt«[26] – und diese Dimension der ›Faselei‹ ist es, die mit einer Online-Edition ihrer Werke einzuholen wäre.

Ulrike Landfester (München/Frankfurt am Main)

PD Dr. Ulrike Landfester
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3 RG
80799 München
Landfester@aol.com

(2. Juli 2000)
[1] Bettine von Arnim: Die Günderode. In: Werke und Briefe in vier Bänden, hg. v. Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1986ff. Bd. I: Clemens Brentano's Frühlingskranz, Die Günderode, hg. v. Walter Schmitz. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 12), 295-746. [Hier: S. 469].
[2] A.a.O., S. 520.
[3 ]A.a.O., S. 534.
[4 ]Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Gunter Martens/Hans Zeller (Hg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1971, S. 1-44. [Hier: S. 8].
[5 ]A.a.O., S. 25.
[6 ]Theodor Mundt, [Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde]. In: Literarischer Zodiacus (April 1835), S. 328f. [Hier: S. 328].
[7 ]Max Wehrli: Vom Schwinden des Werk-Begriffs. In: editio 5 (1991), S. 1-11. [Hier: S. 3].
[8 ]Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen. Aus seiner Arbeitsweise. Prolegomena zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Hans Zeller/Gunter Martens (Hg.): Textgenetische Edition. Tübingen: Niemeyer 1998 (Beihefte zu editio; 10), S. 7-51. [Hier: S. 9].
[9 ]A.a.O., S. 7.
[10 ]A.a.O., S. 9.
[11 ]Die folgenden Ausführungen verzichten der Übersichtlichkeit halber weitestgehend darauf, die Anschlußpunkte der miteinander in Beziehung stehenden Texte im einzelnen nachzuweisen; zu einer ausführlichen Gesamtdarstellung auch der historischen Hintergründe und zu den entsprechenden bibliographischen Nachweisen vgl. stattdessen meine Monographie: Selbstsorge als Staatskunst. Bettine von Arnims politisches Werk. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000 (Stiftung für Romantikforschung; VIII), die die Grundlage des hier Skizzierten bereitstellt.
[12 ]Vgl. dazu den Kommentar zu Die Günderode (Fußnote 1), S. 1102-1108.
[13] Ludmilla Assing (Hg.): Briefwechsel zwischen Pückler und Bettina von Arnim. In: Aus dem Nachlaß des Fürsten Pückler-Muskau. Briefwechsel und Tagebücher des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau. Bd. 1, Hamburg 1873 (Photomechanischer Nachdruck Bern: Herbert Lang 1971), S. 79-271. [Hier: S. 135].
[14 ]A.a.O., S. 151.
[15 ]Ludmilla Assing (Hg.): Briefe von Alexander von Humboldt an Karl August Varnhagen von Ense 1827-1858. Nebst Auszügen aus Varnhagens Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und anderen an Humboldt. Leipzig: Brockhaus 1860, S. 319.
[16 ]Vgl. dazu Wolfgang Bunzel: Bettine von Arnim und Karl August Varnhagen von Ense. Ein Abriß ihrer politisch-literarischen Zusammenarbeit. In: Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 3 (1989), S. 223-247.
[17 ]Zu einer genauen Darstellung der Geschichte von Bettines schriftlichem Nachlaß vgl. meine Monographie Selbstsorge als Staatskunst (Fußnote 11), S. 43-59.
[18 ]Zur Briefforschung insgesamt vgl. Reinhard M. Nickisch: Brief. Stuttgart: Metzler 1991 (Sammlung Metzler 260); zur Bedeutung des Briefs in Bettine von Arnims Werk vor allem: Christa Bürger: Die Welt verzehren, um den Hunger nach dem Ich zu stillen. Bettina von Arnims Schreibprojekt. In: CBürger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse (Hg.): »Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht«. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1986 (edition suhrkamp 1329; Hefte für Kritische Literaturwissenschaft 5), S. 43-68; Lorely French: Bettine von Arnim. Toward A Women's Epistolary Aesthetics and Poetics. Los Angeles/California 1986 [Diss.]; Katherine Goodman, Dis/Closures: Women's Autobiography in Germany Between 1790 and 1914. New York/Bern/Frankfurt am Main: Lang 1986 (New York University Ottendorfer Series NF 24); Barbara Hahn:Rahel Levin Varnhagen und Bettine von Arnim. Briefe, Bücher, Biographien. In: Annegret Pelz (Hg.): Frauen – Literatur – Politik. Hamburg 1988 (Argument-Sonderband 172/173; Literatur im historischen Prozeß NF 21/22), S. 115-131; Karin Zimmermann: Die polyfunktionale Bedeutung dialogischer Sprechformen um 1800. Exemplarische Analysen: Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim, Karoline von Günderrode. Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris: Lang 1992 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1302); zur Salonforschung vgl. Konrad Feilchenfeldt: Die Berliner Salons der Romantik. In: Barbara Hahn/Ursula Isselstein (Hg.): Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1987 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik; Beiheft 14), S. 152-163; Edith Waldstein: Bettina von Arnim and the Politics of Romantic Conversation. Columbia 1988 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture 33); vor allem Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914). Berlin/New York: de Gruyter 1989 (Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 73); Konstanze Bäumer:, Interdependenzen zwischen mündlicher und schriftlicher Expressivität. Bettina von Arnims Berliner Salon. In: Walter Schmitz/Sibylle von Steinsdorff (Hg.): »Der Geist muß Freiheit genießen...!« Studien zu Werk und Bildungsprogramm Bettine von Arnims (Kolloquium vom 6.-9.7.1989 in München). Berlin: St. Albin Verlag 1992 (Bettina-von-Arnim-Studien 2), S. 154-173; Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart: Metzler 1993.
[19 ]Jean-Louis Lebrave: Hypertext und textgenetische Edition. In: Textgenetische Edition (Fußnote 8), S. 329-345. [Hier: S. 331, dort auch weitere Literaturhinweise].
[20 ]Wolfgang Frühwald: Die Not der schlesischen Weber. Zu Bettine von Arnims Armenbuch 1844. In: Christoph Perels (Hg.): »Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen«. Bettine von Arnim 1785-1859. Ausstellungskatalog. Freies Deutsches Hochstift. Frankfurt am Main: Freies Deutsches Hochstift 1985, S. 269-280. [Hier: S. 279].
[21 ]Hartwig Schultz: Bettine von Arnims Armenbuch. Probleme einer kritischen Edition. In: editio 1 (1987), S. 224-233. [Hier: S. 233].
[22 ]Heinz Härtl: Bettinas Armenbuch. Das überlieferte Material und seine Edition. In: Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 3 (1989), S. 127-136.
[23 ]Erschienen sind: Bettina von Arnim: Werke. Im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar hg. v. Heinz Härtl. Berlin (Ost)/Weimar: Aufbau 1986ff. Bd. 1: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. 1986. Bd. 2: Die Günderode. Clemens Brentanos Frühlingskranz. 1989.
[24 ]Hans-Walter Gabler: Computergestütztes Edieren und Computer-Edition. In: Textgenetische Edition (Fußnote 8), S. 315-328. [Hier: S. 320f].
[25 ]A.a.O., S. 324.
[26 ]Otto Pfülf/S. J. Aus Bettinas Briefwechsel. In: Stimmen aus Maria Laach, Bd. 64 (1903), S. 437-454, 564-573. [Hier: S. 570f].