PAUL GILSTER: DIGITAL LITERACY. NEW YORK: John Wiley & Sons 1997.

»Literacy« übersetzt man aus dem Englischen zum einen mit der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, zum anderen mit literarischer Belesenheit. Um letztere geht es in diesem Buch nicht. Vielmehr möchte der Autor erklären, inwiefern die Nutzung des Internet eine neue Art von Lesekompetenz erfordert. Ganz in der Tradition der Aufklärung ist sein Anliegen zu begreifen, besonders dem Internet-Einsteiger ein kritisches Sensorium, eine Portion Skepsis bei der Recherche im Internet nahezulegen. Es geht also vor allem um das Auffinden sowie um die Bewertung von Informationsquellen, um die Fähigkeit, »to separate truth from fiction« (S. XII), wie es der Autor recht plakativ formuliert. Außerdem beschreibt er die Eigenart von Hypertext und Hypermedia (digital organisierten Texten) und stellt verschiedene Suchmethoden vor. Zur Sprache kommen auch Probleme des Copyright und des elektronischen Geldtransfers. Der Anspruch ist insgesamt hoch, soll doch der Internet-Nutzer die Techniken lernen, mit deren Hilfe er seine eigenen Fragen im Internet durch Reduktion von Komplexität richtig beantworten kann.

Die ersten beiden Kaptitel versuchen, die These zu begründen, daß im Internet-Zeitalter gerade »Digital Literacy« eine Schlüsselkompetenz ausmache. Der Autor zitiert höchst unterschiedlich ausfallende Studien, denen zufolge in den USA zwischen 5,8 und 42 Millionen Menschen das globale Netz in Anspruch nehmen. Sicher ist nur, daß die Mehrheit männlich ist und zwei Drittel einen akademischen Abschluß besitzen. Diese unausgewogene Verteilung führt Gilster auf früher vorhandene Zugangsbarrieren zurück. Die mit dem World Wide Web eingeführte graphische Benutzeroberfläche gleicht die Internet-Gemeinde immer mehr dem Durchschnitt der Bevölkerung an. Gerade Nutzer, die nicht den Bildungseliten angehören, sind darauf angewiesen, den kritischen Umgang mit dem neuen Medium zu erlernen. Dieses unterscheidet sich von Radio und Fernsehen etwa dadurch, daß es keinen zentralen Sender gibt. Deshalb fordert der Autor mehr individuelle Verantwortung ein, die man durch die Buchlektüre erwerben kann. Bereits hier spekuliert Gilster über mögliche durchgreifende – positive wie negative – Veränderungen aller Lebensbereiche, zu denen die Internet-Technologie führen könnte: von der Aufwertung ländlicher Regionen durch Telearbeit, die der Arbeitnehmer von praktisch jedem Wohnort aus leisten kann, bis zur perhorreszierten Teleschule, die Lehrer überflüssig machen könnte. Wichtig ist Gilsters Einschätzung, daß uns in der Welt der Medien ein großer Paradigmenwechsel vom Fernsehen hin zum Internet bevorstehe, den er insgesamt positiv bewertet. Der Autor ist technikoptimistisch eingestellt. So hebt er den Vorteil des schnelleren Datentransfers, die höhere Transparenz und die Vorteile von E-Mail gegenüber den herkömmlichen Medien hervor. Allerdings ist er deswegen nicht blind für Dunkelstellen des Internet, wie etwa für die ungehinderte Verbreitung von Pornographie und die damit zusammenhängende Forderung nach Zensur.

Im anschließenden praxisorientierten Kapitel begleitet die Rezensentin den Autor durch einen Tag im Internet. Einleuchtend erklärt Gilster nützliche Begriffe wie die Newsgroups und das Funktionieren von E-Mail, teilweise auch technische Finessen, die dem durchschnittlichen Nutzer auf seinem Weg zur kritischen Internet-Recherche aber eher hinderlich sind. So findet sich zwar eine Erklärung des Post Office Protocol (POP), eines Mechanismus, der eingegangene Post auf den eigenen Rechner herunterlädt, der Autor versäumt andererseits aber, bei der Einführung der PPP-Verbindung (das Point to Point Protocol ist zur Internet-Verbindung über die Telefonleitung notwendig), diese zu erklären. An anderer Stelle heißt es zwar, daß Netzwerke Computer verbinden und eben nicht Terminals, aber erst am Ende des Buchs erfährt dann der technisch unbeschlagene Leser, was es eigentlich mit Terminals auf sich hat. So stellt sich generell die Frage, ob die zum Teil recht techniklastige Orientierung des Buchs gerechtfertigt ist, dessen Lektüre doch Schlüsselkompetenzen bei der Bewertung von Informationen vermitteln soll. Denn die Folge, die daraus zu ziehen wäre, ist ja gerade, daß die Nutzung des Internet doch erheblicher technischer Vorkenntnisse bedarf, eine Voraussetzung, die der Autor gleichzeitig negiert.

Das für die »Digital Literacy« zentrale Kapitel des Buchs ist das vierte: Hier geht es um die Bewertung des Inhalts. Der Autor diskutiert Methoden zur Beurteilung der Verläßlichkeit von Web-Seiten, also die Verifizierung dessen, was wir im Netz sehen, aber auch die Vorstufe davon, nämlich das Verstehen von Hypertext sowie die Verwendung wichtiger Suchmethoden. Er versäumt nicht, auf die Gefahren eines dezentralen Mediums wie des Internet hinzuweisen, beispielsweise, daß es zu Propagandazwecken mißbraucht werden könnte. Die anschließend beschriebenen Techniken zu Bewertung des Inhalts von recherchierten Daten sind gerade für Einsteiger plausibel dargestellt und sehr nützlich. Dem Internet-Nutzer wird angeraten, der Verfasserangabe einer Web-Seite nachzugehen. Per E-Mail kann man sich mit Fragen an den Autor wenden oder mit Hilfe der – allerdings erst weiter unten erklärten – Suchmaschinen über weitere Publikationen des Autors Aufschluß erhalten. Gilster gibt Hinweise zur Aufschlüsselung von E-Mail-Adressen, so weist das org-Suffix beispielsweise auf einen nichtkommerziellen Anbieter hin. Der Unterscheidung zwischen kommerziellen (com-Suffix) und privaten Seiten mißt er ebenfalls Bedeutung bei. Auch über den Umgangston in den Newsgroups erfährt man Essentielles, so erklärt der Autor beispielsweise die Funktion der FAQs, also der Frequently Asked Questions, Dateien, die man tunlichst konsultieren sollte, bevor man sich mit einer trivialen Frage in eine Diskussion einschaltet. Besonders wichtig ist aber der kritische Blick auf die Web-Seite, die man zur Verifizierung regelrecht analysieren kann. Schlüsselfragen sind beispielsweise: Wann wurde die Seite erstellt, wann zuletzt überarbeitet (eine gute Web-Seite überarbeitet der Autor regelmäßig!), und welche Links, also per Maus anklickbare Querverweise, sind verfügbar? Sind viele Links sogenannte Dead Ends, führen sie also zu keinen weiteren Web-Seiten, so ist das Grund genug, hinsichtlich der Aktualität mißtrauisch zu sein. Auch auf das Auslassen von Links weist der Autor hin und darauf, daß man daraus auf die Intention der Web-Seite Schlüsse ziehen kann. Durch die Links rezipiert der Leser also nicht nur Text, sondern er konstruiert ihn gleichzeitig; ein Text kann also immer wieder anders gelesen werden. (Die Analogie zu modernen Literaturtheorien drängt sich geradezu auf.) Anhand von fünf konkreten Bewertungsproblemen exemplifiziert der Autor diese Techniken. Viele Adressen laden den Internet-Nutzer übrigens dazu ein, selbst die Bewertungsfragen am Computer gleich nachzuvollziehen. Nach der Lektüre und praktischen Erprobung der Vorschläge des vierten Kapitels sollte die naive Herangehensweise an das dezentrale Medium Internet ein Ende haben.

Die virtuelle Bibliothek kann nur eine parallele oder komplementäre zur realen Bibliothek sein, gibt der Autor zu. Der fundamentale Unterschied bezieht sich auf die Recherchemöglichkeit: Die formularbasierte Datenbank der realen Bibliothek, die eine Schlagwortsuche verlangt, wird der nichtnormierten Datenbank, die eine Volltextabfrage ermöglicht, gegenübergestellt. Gerade für die Anliegen einer literaturwissenschaftlichen Recherche überzeugt Gilsters etwas bemüht wirkendes Beispiel für den Vorteil der Volltextrecherche nicht: Kaum jemand wird auf der Suche nach einem Zitat, dessen Herkunft gänzlich unbekannt ist, das Internet bemühen. Da greift die Rezensentin doch lieber zum altbewährten Zitatenschatz. Außerdem ist eine derartige Recherche schon deshalb von marginaler Bedeutung, da zumindest der Autor meistens bekannt ist. Gilster weist auf die Anstrengungen hin, die unternommen werden, um reale Bibliotheken ins Internet zu stellen. Er meint damit, daß der Katalog der Bibliothek online verfügbar ist, nicht etwa die Inhalte. Da darf natürlich auch das ultimative Ziel der Internet-Visionäre nicht unerwähnt bleiben: das Project Gutenberg, das sich zum Ziel gesetzt hat, das gesamte menschliche Wissen online zu sammeln. Aber auch bei bescheideneren Projekten sind mächtige Suchmaschinen, wie beispielsweise Yahoo, Alta Vista, Lycos oder Inktomi inzwischen unabkömmlich.[1] Bei den beiden letztgenannten handelt es sich übrigens um Spinnen- oder Spinnmetaphern, was auf die Verwobenheit der Inhalte im Internet hinweist; »Web« heißt ja nichts anderes als ›Gewebe‹. Der Autor erklärt zwar die unterschiedliche Verwendung von Operatoren wie UND und ODER bei einzelnen Suchmaschinen, gewünscht hätte man sich allerdings eine abstraktere Einordnung der verschiedenen Suchmaschinen für je unterschiedliche Bedürfnisse bei der Recherche.

Die Bemühung, Primärtexte online zur Verfügung zu stellen, berührt natürlich Fragen des Copyright. Bei diesem geht es auch immer um ökonomische Interessen; Gilster behandelt deshalb die Möglichkeit der virtuellen Bezahlung für den Zugriff auf bestimmte Seiten, ein Vorgang, den man »Mikrotransaktion« nennt. Gilster lotet die Aussichten derartiger Projekte aus: Er nennt beispielsweise die Bemühungen von VISA International und Master Card International, Sicherheitsstandards zu schaffen, die Mikrotransaktionen untersützen. So könnte das Abonnement-Prinzip, das momentan auch im Netz vorherrscht, dadurch abgelöst werden, daß nicht mehr eine Art Pauschale zu entrichten ist, sondern daß bereits durch das Anklicken eines Links ein bestimmter Betrag von der Kreditkarte des Benutzers abgebucht wird. Nach Gilster erleiden die Verleger durch Primärtexte, die im Internet stehen, keine finanziellen Einbußen, da die zwei Arten von Bibliotheken nach seiner Ansicht ganz unterschiedliche Lesergruppen ansprechen. Der traditionellen Buchkultur werde dadurch nicht der Garaus gemacht.

Schließlich beschäftigt sich Gilster noch mit einer Frage, wie man vorgehen muß, um als Journalist im Internet für eine Story gut und verläßlich zu recherchieren.

Ein letztes Kapitel beschäftigt sich ausführlicher mit den Zukunftsaussichten des Internet und somit auch mit der Zukunft der Digital Literacy. Wird sich das Internet wirklich zur allgemeinen Plattform entwickeln, welche Bedeutung nimmt die plattformunabhängige Programmiersprache Java in dieser Entwicklung ein, inwiefern konkurrieren Java und ActiveX (die Konkurrenztechnologie von Microsoft)? Diese Fragestellungen passen kaum ins Buchkonzept und führen auch nicht sehr weit, da der Autor recht vage argumentiert. Zu guter Letzt verdeutlicht Gilster nochmals sein technokratisches Verständnis bezüglich des Internet, wenn er meint, Technologie löse die Probleme selbst, die sie schaffe, beispielsweise durch Zugangskontrollen für Seiten mit pornographischem Inhalt.

Das Buch unterscheidet sich von hierzulande üblichen Einführungen ins Internet dadurch, daß es sich nicht bloß mit der Technik beschäftigt, sondern den Blick seiner Leser für die angebrachte Skepsis im Umgang mit Informationen aus dem Internet schärfen will. Methoden zur Bewertung der Inhalte ergänzen die Strategien, wie der einzelne das Internet optimal für seine Bedürfnisse nutzen kann, und zwar im professionellen ebenso wie im privaten Bereich. Immer wieder betont der Autor die Komplementarität von realem und virtuellem Buch; gerade auch in der Literaturwissenschaft bieten ja beide Medien unterschiedliche und einander ergänzende Zugriffsmöglichkeiten, die man sich klar machen sollte. Der Aufbau in acht Kapitel ist gut nachvollziehbar, ebenso hilfreich ist ein angefügter Index. Die Rezensentin hätte sich am Ende jedes Kapitels allerdings eine Liste von darin erwähnten Web-Adressen gewünscht, zumindest hätte man diese zugunsten einer größeren Übersichtlichkeit im Text markieren können. Auch Abbildungen hätten zur Veranschaulichung beitragen können. Digital Literacy ist insgesamt aber ein sehr nützliches Buch mit dem wichtigen Anliegen, die Kritikfähigkeit der Internet-Nutzer zu verbessern. Durch dieses lobenswerte Konzept hebt es sich wohltuend von vergleichbaren Titeln auf dem deutschen Buchmarkt ab.

Inge Steutzger (München)


[1] Yahoo: <http://www.yahoo.com>.
Alta Vista: <http://www.altavista.digital.com>.
Lycos: <http://www-german.lycos.com>.
Inktomi: <http://www.hotbot.com>.

Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) [Zurück zum Inhaltverzeichnis]